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Individuum und Weltorganisation: Das Leben des Brian Urquhart

Brian Urquhart war die zweite Person, die offiziell in den Dienst der Vereinten Nationen eintrat. Er hat die Gründung der Weltorganisation aus nächster Nähe erlebt. Individuum und Institution sind hier aufs Engste miteinander verwoben, sodass das 75-jährige Jubiläum der UN einen Anlass bietet, auf diese Persönlichkeit zu schauen.

Brian Urquhart, UN-Untergeneralsekretär ohne Geschäftsbereich, im Januar 1956. UN Photo

 

Einiges an der Lebensgeschichte des Brian Urquhart erinnert an eine Versammlung von Charakteren aus einem Roman von John le Carré: Der aufmüpfige Soldat, der riskante Missionen übernimmt, der stilsichere Diplomat, der sich über die etablierte Etikette hinwegsetzt, und der zurückhaltende Beamte, der aus der zweiten Reihe die Politik orchestriert. Das Leben von Urquhart führt all diese und noch mehr Figuren zusammen – nicht als Roman, sondern als Biografie, die in einer Person das Bemühen um eine Organisation der Welt im 20. Jahrhundert repräsentiert. Mit le Carré verbindet ihn nicht nur die zeitweise Tätigkeit für den Geheimdienst, sondern auch die Herkunft aus der Grafschaft Dorset in der sein »Leben in Frieden und Krieg« beginnt.[1]

 

Internationalist in jungen Jahren

Als Brian Urquhart am 28. Februar 1919 in Bridport an der Südküste Englands geboren wird, war der Erste Weltkrieg erst wenige Monate zuvor beendet worden und vor nur wenigen Wochen hatten die Friedensverhandlungen von Versailles begonnen. Die Familie hat schottische Wurzeln, der Vater war ein Landschafts- und Porträtmaler sowie Illustrator.[2] Im Jahr 1925 verlässt Murray Urquhart seine Frau Bertha, geborene Rendall, und seine beiden Söhne, den elfjährigen Andrew und den sechsjäh­rigen Brian, der früh realisiert, dass er aufgrund der beschränkten finanziellen Ressourcen seiner Mutter, einer Grundschullehrerin, allein durch herausragende Leistung Lebens- und Bildungschancen erschließen kann. So besucht er ungewöhnlicherweise zunächst die Badminton School for Girls in Bridport, an der seine Mutter und seine Tante lehren. Rückblickend betont er, dass an dieser Schule großes Interesse und große Hoffnungen für den Völkerbund bestanden – jener neuen Weltorganisation, die aus den Erfahrungen des Krieges und den Verhandlungen des Friedens hervorgegangen war. Das zeitliche Zusammenfallen von Geburts- und Gründungsjahr steht im Falle Urquharts für eine generationelle Erfahrung, die zu einer internationalistischen Orientierung und dem besonderen Interesse für internationale Probleme und Zusammenarbeit führt. Urquhart gelangt im Jahr 1931 mit dem prestigeträchtigen King’s Scholarship an die Westminster School in London. Interessanterweise sieht er das britische Schulsystem in der damaligen Zeit »darauf angelegt, Beamte für ein sehr großes Weltreich auszubilden, das von einer kleinen Insel mitten im Meer«[3] regiert werden sollte. Die deutsche Übersetzung ›Beamte‹ trifft dabei nur bedingt die Idee des ›international service‹, die Urquhart schon in Schulzeiten auch als ganz praktische Berufsmöglichkeit definiert. Die Vorstellung eines internationalen Dienstes steht in der damaligen Zeit offensichtlich im Erfahrungshorizont des Wirkens im britischen Empire. Und doch sollten die Verbindungslinien zwischen der Idee eines Weltreichs auf der einen Seite und einer Weltorganisation auf der anderen Seite nicht zu schnell gezogen werden. Auch für die Zeitgenossen war die Gründung des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen gerade durch die Unterschiede zu kolonialer Herrschaftsausübung definiert.[4] Nach eigenem Bekunden wächst jedenfalls schon in diesen Jahren Urquharts Wunsch, einmal für den Völkerbund zu arbeiten. Von Westminster aus, wo er mehrere Sprachen erlernt, geht Urquhart, wiederum mit einem Stipendium, im Jahr 1937 zum Studium der Geschichte ans Christ Church College der Universität Oxford und zeigt sich auch hier überaus engagiert bei Diskussionen und Demonstrationen zu den Entwicklungen der Abessinien-Krise oder des spanischen Bürgerkriegs. Den Abschluss verfolgt er nur halbherzig; bei Kriegsausbruch meldet er sich freiwillig für die Marine – füllt aber das falsche Formular aus und landet bei der Armee.

 

Weltkriegserfahrungen und Lehren

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs weist eine ganze Reihe von außergewöhnlichen Erfahrungen des Soldaten Urquhart auf. Drei seien kurz genannt: Über einige Umwege gelangt er in die erste Luftlandetruppen-Einheit der britischen Armee. Die noch überaus improvisierte Ausstattung, zu der eigens in einem Käfig mitgeführte Tauben zur Kommunikation gehörten, bekommt er im August 1942 auf tragische Weise zu spüren. Ein Fallschirm öffnet sich nicht und er stürzt weitgehend ungebremst zu Boden. Nach langer Genesung kehrt er im Jahr 1944 in den Militärdienst zurück und bekommt Aufgaben bei der Planung der Luftlandeoperation ›Market Garden‹. In dieser Eigenschaft legt er sich mit seinen Vorgesetzten an und warnt eindringlich vor nahe dem Zielgebiet liegenden Panzerverbänden der Deutschen, die die alliierten Kommandeure nicht berücksichtigen. Die Militäraktion endet im Desaster. In seinen Memoiren schreibt Urquhart: »Es gibt kaum eine wirkungsvollere Art, unpopulär zu werden, als Recht zu behalten.«[5] Er wird wegen »nervlicher Überlastung« versetzt und landet wiederum auf einigen Umwegen bei einer Einheit, die als ›T-Force‹ bekannt wurde.[6] Ihr Auftrag bestand im Auffinden und der Sicherung deutscher Technologiegüter und Wissenschaftler. Dabei bewegte sich diese Spezialtruppe auf durchaus abenteuerliche Weise hinter und auch manchmal vor den kämpfenden Truppen. Urquhart entdeckt eine Zentrifugenanlage in der Nähe von Celle und verhaftet den Atomwissenschaftler Wilhelm Groth. Er gehört zu den ersten britischen Truppen, die mehr oder minder zufällig das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreichen, und nicht zuletzt auf seine Initiative hin rast eine Einheit der T-Force entgegen der Waffenstillstandsvereinbarungen nach Kiel, um die Stadt und den Hafen vor dem Zugriff der Roten Armee zu sichern. Wenn die UN der Gegenentwurf zur Leidenserfahrung des Zweiten Weltkriegs sind, so hatte der gerade einmal 26-jährige Brian Urquhart im Jahr 1945 von den Schrecken der Schlachtfelder, der Konzentrationslager, der Furcht vor atomaren Waffen bis hin zum Aufkommen von Rivalitäten der Alliierten untereinander Einiges aus erster Hand erlebt. Seine daraus resultierende Hoffnung auf Frieden ist im Lichte der persönlichen Erfahrungen keine naive Wunschidee, sondern gibt der internationalistischen Prägung der Schuljahre nochmals eine deutliche Richtung hin zur Arbeit an neuen Institutionen des Friedens.

Der Wunsch, einmal beim Völkerbund zu ar­beiten, ist jedenfalls noch in den Ohren des Geschichtsprofessors Arnold Toynbee, der während des Krieges die Nachrichtenabteilung des britischen Außenministeriums leitete. Toynbee kannte Urquhart als Studienkollegen seines Sohnes und holt ihn im Jahr 1945 zunächst ins Außenministerium, um ihn dann an Gladwyn Jebb zu vermitteln. Jebb war zum Leiter der Vorbereitungskommission der Vereinten Nationen bestimmt worden und suchte noch Personal. Urquhart wird sein privater Sekretär und da die Arbeit der Kommission, die sich in London traf, schon als Tätigkeit der UN gewertet wurde, wird Urquhart zur zweiten Person, die in die Dienste der neuen Organisation aufgenommen wird.[7] Wiederum begegnen sich indi­viduelle und institutionelle Geschichte auf augenfällige Weise: Urquharts neuer Chef leitet die Verhandlungen über die Ausgestaltung und Konkretisierung der UN-Charta. Tatsächlich fungiert Jebb zwischen Oktober 1945 und Februar 1946 auch als erster – wenngleich kommissarischer – Generalsekretär der Vereinten Nationen.

Er gehört zu jenen, denen die konsequente Neuorientierung der internationalen Politik nicht schnell genug gehen kann.

Urquhart, der die Arbeit bei den UN als »einen in Erfüllung gegangenen Traum«[8] bezeichnet, bleibt auch mit dem Amtsantritt des ersten UN-Generalsekretärs Trygve Lie den Vereinten Nationen treu und wird dessen persönlicher Assistent. Das Verhältnis zu seinem neuen Vorgesetzten ist nicht ganz einfach, da Urquhart den Norweger nicht für die ideale Besetzung hält und dieser seinerseits dem Briten misstraut. Urquhart gehört zu einer Gruppe jüngerer Bediensteter, denen die konsequente Neuorientierung der internationalen Politik nicht schnell genug gehen kann.[9] Auch wegen einiger Personal- und Sachfragen fällt er aus der Gunst Lies und bittet selbst um seine Versetzung. Die neue Arbeit in der Abteilung für die Sonderorganisationen bestätigte auf ihre Art und Weise eine erste deutliche Desillusionierung mit der neuen Organisation.

 

Improvisation und Gestaltungsmöglichkeiten

Das änderte sich mit dem Amtsantritt Dag Hammarskjölds. Urquharts früherer Vorgesetzter Jebb empiehlt seinen ehemaligen Mitarbeiter dem neuen UN-Generalsekretär. Urquhart wird zum Assistenten von Ralph Bunche, dem angesehenen Akademiker, Bürgerrechtler und für seine Vermittlungsbemühungen im Nahen Osten im Jahr 1950 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Amerikaner. Die Zeit in Diensten von Bunche und Hammarskjöld bezeichnet Urquhart rückblickend als die »fruchtbringendste Zeit«[10] seiner Karriere. Auch hier waren es eine Reihe von ›Ersterfahrungen‹ und die Schaffung von Präzedenzfällen, die Individuum und Institution verbinden. So arbeitete Urquhart intensiv an den Verhandlungen, die zur Errichtung der Internationalen Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency – IAEA) führten. Ganz nach seinem Geschmack – und dem Bunches und Hammarskjölds – war auch das seltsamerweise so benannte Amt des ›Untergeneralsekretärs ohne Geschäftsbereich‹, das Bunche bekleidete, eine willkommene Gelegenheit, aktiv zu werden und der Weltorganisation neue Arbeitsbereiche zu erschließen. Hinter dem nebulösen Titel verbarg sich die Lizenz zur Mediation. Bunche und sein Team wurden zum ›Problemlöser‹ in einer ganzen Reihe von Konflikten. Zwei stechen besonders hervor und in beiden hatte Urquhart wiederum eine besondere Rolle: In der Suez-Krise im Jahr 1956 fällt es Urquhart als dem einzigen Mitarbeiter mit dezidiert militärischem Hintergrund im Sekretariat wesentlich zu, die neue Idee der UN-Blauhelme in die Realität umzusetzen. So entwickelt er unter anderem eine Lösung für die Frage, wie die Soldaten verschiedener Nationen, die in der Noteinsatztruppe der Vereinten Nationen (United Nations Emergency Force – UNEF) zusammenfanden, der einheitlichen Erkennbarkeit halber ausgestattet werden sollten: Die ersten UN-Helme waren improvisierte Plastikeinlagen für Stahlhelme, die hastig mit hellblauer Farbe angesprüht wurden.[11] Im Kongo übernahm Urquhart nicht nur im New Yorker Amtssitz der UN, sondern auch vor Ort eine ganze Reihe von Aufgaben. So wird er im Jahr 1961 UN-Repräsentant in der abtrünnigen Provinz Katanga und prompt am ersten Tag zusammengeschlagen und zeitweise entführt. Hammarskjölds Tod bei dem bis heute unaufgeklärten Flugzeug­absturz in Nordrhodesien, dem heutigen Sambia, kurz zuvor war für Urquhart ein persönlicher Verlust, wenngleich er sich scheut, den im persönlichen Umgang zurückhaltenden Schweden als einen Freund zu bezeichnen. Die intellektuellen, politischen und persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften Hammarskjölds hält er für einen Glücksfall für die Weiterentwicklung der Weltorganisation. Diese Einsicht war es auch, die ihn dazu motivierte, eine Biografie Hammarskjölds zu schreiben, die seit ihrem Erscheinen im Jahr 1972 als das Standardwerk zu Leben und Wirken des zweiten UN-Generalsekretärs gilt.[12]

Auch unter Hammarskjölds Nachfolger Sithu U Thant bleibt Urquhart im Sekretariat für eine ganze Bandbreite von politischen Fragen zuständig und arbeitet wesentlich beim Verfassen von Berichten und Reden U Thants mit. Er ist weiterhin eng in die Konfliktbearbeitung integriert, die nun über den Kongo hinaus in den Nahen Osten, nach Bangladesch oder zu der neu auf Zypern eingerichteten Friedensmission führt. Urquhart erlebt wichtige Krisen und Konflikte des Ost-West-Konflikts aus unmittelbarer Nähe – von der Kuba-Krise über den Vietnam-Krieg bis hin zum Sechstagekrieg, dem der bis heute umstrittene Rückzug der UNEF-Truppen vorausging. U Thant gegenüber, der wiederum eine gänzlich andere Führungspersönlichkeit als seine Amtsvorgänger darstellt, hat er höchsten Respekt und erlebt auch hier etwa am Beispiel der Niederschlagung des Prager Frühlings die Beschränkungen, denen das Handeln der UN in diesen Jahren unterliegt. Ihm gelingt es jedoch nicht zuletzt durch die Mitwirkung an den Reden und Berichten des burmesischen Generalsekretärs, auch seine individuelle Erfahrung mit und seine Deutung der Institution der Vereinten Nationen in die konzeptionelle Weiterentwicklung der Organisation mit einfließen zu lassen. Noch einschneidender als der Amtswechsel von U Thant zu Kurt Waldheim ist im Jahr 1971 der Tod seines langjährigen Chefs, Mentors und Freundes Ralph Bunche, dem er im Jahr 1993 die zweite von ihm verfasste Biografie widmet.[13]

 

Konflikte ›auf Wiedervorlage‹

Nachdem er Bunches Aufgaben über Jahre hinweg teils kommissarisch mit übernommen hat, wird er ausgerechnet unter Waldheim, den er wohl am wenigsten unter den Amtsinhabern schätzte und in seiner Autobiografie als »energiegeladene, ehrgeizige Mediokrität«[14] bezeichnet, im Jahr 1974 zum Nachfolger Bunches und UN-Untergeneralsekretär. Die individuelle Beförderung fällt mit einer Reihe von Verschiebungen in der Institution und der internationalen Politik zusammen. Wiederum steht der Nahe Osten im Mittelpunkt von Urquharts Aufgaben. Der Yom-Kippur-Krieg, die Lage in Libanon und auf den Golanhöhen stellen die Weltorganisation vor neue Herausforderungen. Nach seiner Mitwirkung bei der Schaffung der UNEF I ist Urquhart ironischerweise auch bei der Etablierung der zweiten Noteinsatztruppe (UNEF II) im Jahr 1973 wesentlich beteiligt. Seine Leistung dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass der zunächst auch wiederum etwas misstrauische Waldheim ihn befördert. Urquhart leitet von nun an auch direkt eine Reihe von Friedensgesprächen und Vermittlungsbemühungen; mehr und mehr tritt er aus der zweiten in die erste Reihe. Das betrifft etwa auch seine Rolle beim Zypern-Konflikt auf, der nach einem Militärputsch und der türkischen Invasion im Jahr 1974 abermals eskaliert. Die ›heiße Kartoffel‹ landet in den Händen der UN – und konkret in den Händen Urquharts, der ebenso wie eine ganze Reihe von Vorgängern und Nachfolgern in den höchsten UN-Ämtern durchaus Bewegung, aber letztlich keine Beilegung des Konflikts bewirken kann. Die Waldheim-Jahre sind darüber hinaus noch von einer stärkeren Akzentuierung neuer Konfliktlinien geprägt. Die Aufnahme der Volksrepublik China im Jahr 1971 ist endgültiger Ausdruck der Auflösung einer westlich orientierten Mehrheit in der Generalversammlung und die Auseinandersetzung um Resolutionen zur ›Neuen Weltwirtschaftsordnung‹ oder zum Zionismus markiert neue Verwerfungen, insbesondere zwischen den USA und der Mehrheit der Länder des Globalen Südens. Die Probleme um das Apartheid-Regime in Südafrika stehen ebenfalls hoch auf der Agenda von Urquhart. Gerade mit Blick auf die Unabhängigkeit Namibias unternimmt er mehrere Versuche einer für alle beteiligten Parteien tragfähigen Lösung im Einklang mit den Vorgaben des Sicherheitsrats. Hier behindert unter anderem der politische Wechsel in den Spitzenpositionen Großbritanniens und der USA eine Lösung. Die einst improvisierte UN-Friedenssicherung, für die Urquhart verantwortlich zeichnet, ist in doppeltem Sinne routiniert geworden: Die Abläufe werden professioneller, die Wirkung beschränkt sich jedoch oftmals nur auf das Einfrieren des Konflikts.

Ihm gelingt es, seine Erfahrung mit den UN in ihre konzeptionelle Weiterentwicklung mit einfließen zu lassen.

Mit Pérez de Cuéllar übernimmt im Jahr 1982 ein ehemaliger Kollege und Untergeneralsekretär das höchste Amt der UN. Auch er behält Urquhart als geschätzten Mitarbeiter in einem weltpolitischen Umfeld, das sich abermals gewandelt hat: Die Revolution in Iran, der Einmarsch der Sow­jetunion in Afghanistan, die Reformpolitik in der Volksrepublik China sowie die Manifestation von ökonomischen und ökologischen Sicherheitsbedrohungen mit der Ölkrise und dem Atomunfall in Harrisburg verändern die internationale Lage.[15] Besonders der Libanon-Krieg im Jahr 1982 erscheint Urquhart als Rückschlag an einem Schauplatz, mit dem er nun schon seit Jahrzehnten verbunden ist. Mit de Cuéllar gelingt die Abstimmung und Zusammenarbeit problemlos. Beide sind sich weitestgehend einig in der Analyse der durchaus bedroh­lichen Situation. Es ist wiederum Urquhart, der wesentliche Teile des ersten Jahresberichts des neuen Generalsekretärs mit seiner deutlichen Warnung verfasst, die UN-Mitgliedstaaten befänden sich »gefährlich nahe an einer neuen internationalen Anarchie«.[16] Hinzu kommen erhebliche Sorgen um die finanzielle Ausstattung der UN aufgrund von Zahlungsrückständen und Zahlungsverweigerungen. Der Sicherheitsrat ist tief gespalten und Urquhart spricht, erneut tief enttäuscht, in einer Rede anlässlich des 40. Jubiläums der Weltorganisation davon, dass wohl nur ein Ereignis wie eine außerirdische Invasion die von der Charta verlangte Einheit im Sicherheitsrat herstellen könnte.[17] Und so lesen sich die letzten Kapitel seiner Autobiografie durchaus etwas wie eine Anti-Klimax. In einer weiteren Parallelität von Individuum und Institution hatte er sich das 40-jährige Jubiläum der UN zum Anlass seines Ausscheidens aus dem Dienst genommen. Sein Nachfolger im Amt, Marrack Goulding, übernimmt am 1. Februar 1986. Urquhart bedauert, dass er die Vereinten Nationen »in einem Moment verlässt, in dem sie sowohl politisch als auch finanziell zunehmend in schweres Fahrwasser geraten sind«.[18] Tatsächlich wünscht er, er hätte mehr erreichen können. Doch auch angesichts so mancher Enttäuschung hält er nach 40 Jahren Tätigkeit für die UN fest: »Idealismus, der aus menschlicher Erfahrung gewonnen wurde, ist weitaus realistischer als Ideologie – ganz zu schweigen von Zynismus oder Resignation.«[19]

Tatsächlich schied Urquhart rückblickend etwas zu früh aus dem Dienst der Vereinten Nationen aus.

Tatsächlich schied Urquhart rückblickend etwas zu früh aus dem Amt. Es war zwar keine außerirdische Invasion, die den Sicherheitsrat und die Institution als Ganzes zu neuer Einigkeit und neuen Möglichkeiten brachte, aber die schrittweise Auflösung der Konfliktstrukturen der Ost-West-Konfrontation, die natürlich auch nicht als ein übernatürliches Ereignis in die Weltpolitik trat, sondern durch konkrete Personen und Handlungen Schritt für Schritt, Konflikt für Konflikt gestaltet wurde.[20] Und das wiederum wurde auch möglich, weil die UN durch die Arbeit von Urquhart und anderen eben ihre Bemühungen trotz aller Rückschläge und Blockaden nicht aufgegeben haben. Als sich dann das internationale Klima bedingt durch viele Faktoren besserte, konnten die UN die von ihnen erarbeiteten Pläne und Ideen in die ›Wiedervorlage‹ bringen und so die überaus schnelle und erfolgreiche Serie von Konfliktbeendigungen zum Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre umsetzen. Die Rolle der Vereinten Nationen bei der Unabhängigkeit Namibias, die schließlich im Jahr 1990 erreicht wurde, ist ein Beispiel für diese Dynamik, da die Strukturen und Ideen, die Urquhart und seine Mitarbeiter inklusive des damals schon designierten Sondergesandten und späteren Friedensnobelpreisträgers Martti Ahtisaari entwickelt hatten, nahezu nahtlos wieder aufgenommen und umgesetzt werden konnten.

 

Wirken über seine UN-Tätigkeit hinaus

Urquharts Bemühungen um die Vereinten Nationen hörten mit seinem Ausscheiden aus dem offiziellen Dienst nicht auf. Tatsächlich hat er die Probleme und Perspektiven der Weltorganisation weiter beobachtet und auch mitgestaltet. Der mittlerweile 101-jährige pensionierte Untergeneralsekretär blieb ein passionierter Kommentator des Weltgeschehens und ein gefragter Ratgeber. Seine häufig in der New York Review of Books veröffentlichten Texte bilden eine Art Serienreportage zum Wesen und Wandel der Vereinten Nationen.[21] Auch nach Jahren noch hoch aktuell bleibt die Sammlung von Reformvorschlägen, die er zusammen mit Erskine Childers veröffentlicht hat.[22] Es ist überaus stimmig, dass er im Jahr 1992 zu den Mitgliedern der Kommission für Weltordnungspolitik (Commission on Global Governance) gehörte, die das Projekt der Weltorganisation nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weitergedacht haben und deren Stichworte die politische und akademische Debatte bis heute prägen.[23]

Urquharts Frau Sidney berichtet, dass dieser im Jahr 1986 eigentlich schon die Information aus Norwegen bekommen habe, dass er für seine Leistungen im Rahmen der Vereinten Nationen den Friedensnobelpreis erhalten werde.[24] Es kam anders und dem Bericht nach hat er die frühmorgendlich in New York ankommende Nachricht mit einem »So viel dazu.« kommentiert und weiter geschlafen. Als die UN-Blauhelmtruppen zwei Jahre später den Friedensnobelpreis erhalten, wird er in einer weiteren Überschneidung von individuellem Leben und institutioneller Geschichte für die Delegation des Generalsekretärs sozusagen reaktiviert. Eine große und verdiente Würdigung auch seines Lebenswerks. Einige Monate vor der Preisverleihung hatte Brian Urquhart jedoch im Jahr 1988 im Rahmen einer Vorlesungsreihe an der University of Texas postuliert, dass die internationale Gemeinschaft bei diesen Verdiensten nicht stehenbleiben sollte: »[Wir] müssen nicht nur internationale Mittel zur Aufrechterhaltung des Friedens entwickeln, sondern uns auch den grundlegenden Ursachen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Instabilität widmen. [...] Die wahre Agenda der nächsten Generation besteht in der Reihe unumkehrbarer Veränderungen, die heutzutage in unserem Verhältnis mit der uns umgebenden Umwelt und Natur stattfinden, die wir immer für gegeben gehalten haben. Fragen regionaler Konflikte, so wichtig sie auch sein mögen, sollten diese Agenda nicht länger verdecken.«[25] In diesen Zeilen findet sich wieder die Handschrift Urquharts mit ihrer besonderen Mischung aus authentischem Idealismus für die Werte und Ziele der Charta, realistischem Blick auf die obwaltenden Kräfte und Herausforderungen der Weltpolitik und einem erfindungsreichen und unerschütterlichen Pragmatismus, der auch angesichts vorhersehbarer oder scheinbar unüberwindbarer Schwierigkeiten nicht klein beigibt. Mit dieser individuellen Handschrift jedenfalls hat Brian Urquhart einige gelungene Kapitel zur institutionellen Geschichte der Vereinten Nationen beigetragen.

[1] Die folgenden Ausführungen stützen sich wesentlich auf Urquharts überaus lesenswerte Autobiografie: Brian Urquhart, A Life in Peace and War, New York 1987. Der Beschreibung eines institutionellen Gedächtnisses der UN angemessen hat er sich zudem in einer Reihe von Oral History Interviews geäußert. Vgl. statt anderer das Interview: UN News, Interview with Former UN Official Brian Urquhart (Part 1 and 2), 26.2.2013, news.un.org/en/interview/2013/02/1030572

[2] Vgl. Brian Urquhart, My Father Murray Urquhart, in: The New York Review of Books, 21.2.2013.

[3] UN News, Interview with Urquhart, a.a.O. (Anm. 1).

[4] So auch dezidiert Brian Urquhart, Decolonialization and World Peace, Austin 1988, S. 9–25.

[5] Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 76. Urquharts Rolle wird sowohl in Cornelius Ryan, A Bridge to Far, New York 1974, S. 114–117; 141–143 als auch im darauf basierenden Spielfilm ›Die Brücke von Arnheim‹ aus dem Jahr 1977 hervorgehoben.

[6] Vgl. dazu Sean Longden, T-Force. The Forgotten Heroes of 1945, London 2009.

[7] Die erste Person ist demnach der Brite David Owen. Vgl. Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 92.

[8] Ebd., S. 93.

[9] Ebd., S.104. Zu dieser Gruppe gehörte auch der französische Widerstandskämpfer und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, Stéphane Hessel, der seitens des UN-Sekretariats an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt war.

[10] Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 125.

[11] Vgl. Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 134 sowie Manuel Fröhlich, The ›Suez Story‹: Dag Hammarskjöld, the United Nations and the Creation of UN Peacekeeping, in: Carsten Stahn/Henning Melber (Eds.), Peace Diplomacy, Global Justice and International Agency. Rethinking Human Security and Ethics in the Spirit of Dag Hammarskjöld, Cambridge 2014, S. 305–340.

[12] Brian Urquhart, Hammarskjold, London/New York 1972.

[13] Brian Urquhart, Ralph Bunche. An American Life, New York/London 1993.

[14] Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 228.

[15] Vgl. die Darstellung bei Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.

[16] Pérez de Cuéllar, Annual Report on the Work of the Organization, New York 1982, S. 1.

[17] Urquhart, A Life, a.a.O. (Anm. 1), S. 371.

[18] Ebd., S. 375.

[19] Ebd., S. 378.

[20] Àlvaro de Soto, Pérez de Cuéllar, in: Manuel Fröhlich/Abiodun Williams (Eds.), The UN Secretary-General and the Security Council. A Dynamic Relationship, Oxford 2018, S. 134–136.

[21] Vgl. statt anderer Brian Urquhart, The UN Oil-for-Food Program: Who Is Guilty?, in: The New York Review of Books, 9.2.2006, S. 45–50.

[22] Brian Urquhart/Erskine Childers, A World in Need of Leadership: Tomorrow’s United Nations, New York 1990.

[23] The Commission on Global Governance, Our Global Neighbourhood, Oxford 1995.

[24] Vgl. Sidney Urquhart, Nobel Defeat, in: New York Magazine, 26.2.1996, S. 14.

[25] Brian Urquhart, Decolonialization and World Peace, a.a.O. (Anm. 4), S. 23.

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