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Humanitäre Hilfe der UN und Geopolitik

Ein Großteil der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen wird erforderlich, weil die Großmächte - insbesondere China, Russland und die USA – Konflikte verursachten oder unterstützten. Sie verfolgen ihre eigenen geopolitischen Interessen und erschweren es den UN, die Konflikte zu verhindern oder zu beenden und zeitnah adäquate humanitäre Hilfe zu leisten.

Nahrungsmittelverteilung in der Zentralafrikanischen Republik. Foto: UN Photo/Herve Serefio

Ein Großteil der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen wird erforderlich, weil die Großmächte – insbesondere China, Russland und die USA – Konflikte verursachten oder unterstützten. Sie verfolgen ihre eigenen geopolitischen Interessen und erschweren es den UN, die Konflikte zu verhindern oder zu beenden und zeitnah adäquate humanitäre Hilfe zu leisten.

Die Organisationen der UN-Familie führen zwei Arten von operativer Hilfe aus: Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.[1] Die Geberstaaten stellen Entwicklungsunterstützung als Ergänzung zu ihrer Außenpolitik bereit, um ihren politischen, wirtschaftlichen, strategischen und/oder kulturellen Einfluss geltend zu machen. Dieser Einfluss dringt bis in das System der Vereinten Nationen vor, deren Organisationen im Entwicklungsbereich von vielen der größten bilateralen Geber als Durchführungsorgane genutzt werden, um eigene Ziele zu verfolgen.[2]

Die humanitäre Hilfe, für die die Vereinten Nationen die erste Anlaufstelle sind, ist eher von Al­truismus geprägt. Die UN nehmen eine zentrale Koordinierungsrolle unter den verschiedenen internationalen und privaten Organisationen ein, die von einem ›Club‹ der größten Geldgeber dominiert werden.[3] Mit einem Anteil von 42 Prozent der Gesamtausgaben des UN-Systems übersteigen die humanitären Maßnahmen, die hauptsächlich die Aktivitäten des Welternährungsprogramms (World Food Programme – WFP), des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (Office of the United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) und des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – UNRWA) umfassen, in finanzieller Hinsicht inzwischen die drei anderen Hauptaufgabenfelder der UN: Frieden und Gerechtigkeit, Menschenrechte sowie nachhaltige Entwicklung. Allerdings unterliegen die humanitären Hilfsmaßnahmen der UN auch geopolitischen Einflüssen, vor allem durch die Machtpolitik ihrer mächtigsten Mitglieder.[4] Insbesondere für die Durchsetzung ihrer Interessen sind China, Russland und die USA – drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats mit Vetorecht (Permanent Three – P3) – hauptverantwortlich für das Entstehen oder Anhalten humanitärer Krisen. Sie beteiligen sich an einigen der größten Konflikte und kontrollieren die Bereitstellung von Hilfsleistungen.

 

Humanitäre Operationen im Ost-West-Konflikt

Nach zunächst bescheidenen Anfängen hat die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen zahlreiche Reformen durchlaufen. Diese waren umfassender als die Reformen in den drei anderen Bereichen. Die UN versuchten, sich an den sich ändernden Charakter der Krisen anzupassen und ihre legitime Rolle bei der Krisenbekämpfung darauf abzustimmen. Dies gilt insbesondere für den Versuch, das Spannungsverhältnis zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und dem Wohlergehen der Zivilbevölkerung aufzulösen.[5]

Die erste Phase der humanitären Hilfe der UN war eine Reaktion auf die Fluchtmigrationen in Europa infolge des Zweiten Weltkriegs. Danach beschränkte sich die Rolle der humanitären UN-Organisationen hauptsächlich darauf, weitestgehend spontan auf Naturkatastrophen zu reagieren. Als jedoch in den 1960er Jahren in Biafra, Nigeria, ein Bürgerkrieg ausbrach, der einen enormen Bedarf an humanitärer Hilfe nach sich zog und zu zahlrei-chen Opfern unter der Zivilbevölkerung führte, weigerte sich die nigerianische Regierung, ein Eingreifen der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC) zuzulassen. Einige nichtstaatliche Organisationen (NGOs) wurden mobilisiert, um Hilfe zu leisten, und das Entsetzen über das Ausmaß der humanitären Katas­trophe führte unmittelbar zur Gründung von Ärzte ohne Grenzen (MSF) und Concern Worldwide.[6] Die mangelnde Präsenz der Vereinten Nationen wurde hinterfragt. Die UN hatten die Notwendigkeit einer humanitären Intervention in einem souveränen Land, das von einer von Menschen verursachten Krise erschüttert wurde, noch nicht vollständig erkannt. Im Jahr 1971, als sich Ostpakistan, das heutige Bangladesch, vom Westen des Landes, Pakistan, abspaltete, übernahmen die UN eine aktivere Rolle bei der Bewältigung sowohl natürlicher als auch durch Menschen verursachter Notsituationen. Beide Krisen machten jedoch deutlich, dass die UN einen systematischeren und koordinierten Ansatz für die Hilfe einschlagen mussten, der über nationale Hoheitsrechte hinausging.

Der nigerianische Bürgerkrieg in den 1960er Jahren rüttelte die humanitäre Gemeinschaft wach und erinnerte sie daran, dass nach der UN-Charta nur souveräne Regierungen einer Intervention zustimmen können. Die eingeschränkte Hilfe von NGOs, die nicht den gleichen Zwängen unterlagen, führte zu einer Spaltung der humanitären Gemeinschaft in staatliche und private Hilfe. Dieser Grundsatz, dass die Regierungen einer externen Intervention der UN bei internen Konflikten zustimmen müssen, galt für die folgenden zwei Jahrzehnte. Die Souveränität der Staaten wurde gewahrt, wenn keine offensichtliche Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit vorlag. In der wegweisenden Resolution der Generalversammlung aus dem Jahr 1991 über die Koordinierung der humanitären UN-Hilfe wurden die souveränen Rechte der Staaten bekräftigt.[7]

 

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Das Ende des Ost-West-Konflikts leitete eine neue Phase des Handelns im Feld ein, begleitet von einem grundlegenden Wandel in der Auslegung der UN-Charta. Innerstaatliche Konflikte, die zu zahlreichen grenzüberschreitenden Vertreibungen von Zivilpersonen führten, wurden als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit angesehen. Die UN und die humanitäre Gemeinschaft sahen sich nun nicht mehr nur mit der Notwendigkeit konfrontiert, auf Naturkatastrophen zu reagieren. Stattdessen leisteten sie bald auch Einsätze in fragilen Staaten, um die Konfliktparteien in Bürgerkriegen auseinander zu halten, und wurden dabei von einem nach Kapitel VII der UN-Charta erteilten Mandat des mittlerweile wieder geeinten Sicherheitsrats unterstützt.

Manche dieser anfänglichen Erfahrungen waren katastrophal. In Bosnien, Ruanda und Somalia waren die UN-Friedenstruppen in den 1990er Jahren nicht in der Lage, das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen, und gerieten selbst in Gefahr. Es war also die »Rettung unter Feuer« geraten und die Retter flohen.[8] Daraufhin schraubten die Vereinten Nationen ihre Ambitionen zurück. Sie erkannten, dass sich der Charakter der humanitären Einsätze stark in Richtung innerstaatliche Konflikte verändert hatte und den Grundsatz der Zustimmung überflüssig machte.[9] Es setzte sich das Verständnis durch, dass die staatliche Souveränität zugunsten der humanitären Hilfe weichen muss.[10]

Aus dieser öffentlichen Debatte ging die von einer internationalen Sachverständigenkommission vorgeschlagene Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P) hervor.[11] R2P definiert Souveränität unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Menschen neu: Sie versteht Souveränität als Verantwortung und Rechenschaftspflicht gegenüber zwei verschiedenen Parteien. Die Verantwortung ist einerseits nach innen gerichtet – gegenüber der eigenen Bevölkerung – und andererseits nach außen – gegenüber der Gemeinschaft der verantwortlichen Staaten und den international festgelegten Menschenrechtsnormen. In Anlehnung an die R2P lässt sich der humanitäre Ansatz also wie folgt definieren: »Wenn Staaten nicht in der Lage sind, für ihre Bevölkerung lebensnotwendigen Schutz und notwendige Hilfe zu gewähren, wird von ihnen erwartet, dass sie Hilfsangebote von außen anfordern und annehmen. Verweigern sie die Hilfe oder behindern sie absichtlich den Zugang zu ihrer betroffenen Bevölkerung und gefährden damit zahlreiche Menschen, erwächst daraus eine internationale Verantwortung zum Handeln.«[12]

Es setzte sich das Verständnis durch, dass die staatliche Souveränität zugunsten der humanitären Hilfe weichen muss.

Humanitäre Einsätze heute

Die R2P wurde in einer für die Vereinten Nationen äußerst fruchtbaren Zeit konzipiert, als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein stärkerer Konsens der Großmächte herrschte. In diesem Jahrhundert führen neue Führungspersönlichkeiten und neue geopolitische Ambitionen zu einer komplexeren Welt des multipolaren Realismus. Mit Ausnahme des russischen Einmarschs in die Ukraine handelt es sich meist um innerstaatliche Konflikte. Einige der größten Konflikte sind von den P3 beeinflusst, was einen massiven Anstieg der humanitären UN-Einsätze zur Folge hatte. Diese Konflikte verursachen eine große Zahl von zivilen Opfern innerhalb der Staaten sowie Menschen, die über die Grenzen hinweg fliehen. Insbesondere die P3 haben die Macht, die Bereitstellung von Hilfe zu verhindern, um ihre geopolitischen Interessen zu verfolgen.

In Syrien etwa hat Russland – mit Unterstützung Chinas – die Rolle der UN bei der Vermittlung von Frieden und der Bereitstellung humanitärer Hilfe eingeschränkt. Russland, das sich bei der Unterdrückung der Opposition weiterhin auf die Seite der Regierung stellt, setzt diese Hilfsmaßnahmen als Kriegswaffe ein. Als das katastrophale Erdbeben im Februar 2023 unter anderem Aleppo und die von den Rebellen kontrollierten Gebiete im Norden Syriens erschütterte, wurde die Lieferung von humanitären Hilfsgütern durch die anfangs fortgesetzte Abriegelung von drei der vier Grenzübergänge in der Türkei durch die syrische Regierung und ihrem russischen Verbündeten behindert. Dies war eine weitere grausame Demonstration der Hilfsverweigerung in den Diensten der geopolitischen Interessen Russlands. Dieselben beiden Staaten unterstützen die Militärjunta in Myanmar, die nach dem Sturz einer demokratisch gewählten Regierung versucht, die Rebellen, die sich ihrer unrechtmäßigen Herrschaft widersetzen, gewaltsam zu beseitigen. In der Ukraine, wo Russland keine Skrupel hat, Krankenhäuser, Schulen, Kulturzen­tren, Wohnhäuser, Lebensmittellager und wichtige Infrastrukturen zu bombardieren – gemäß seinem ›Aleppo-Modell‹ – und zulässt, dass seine Militärangehörigen Morde, Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen begehen, sind die UN machtlos, wenn es darum geht, eine große und steigende Anzahl ziviler Opfer zu verhindern. Die UN können auch hier keinen Frieden vermitteln, solange ein Staat der P3 eindeutig der Verursacher des Konflikts ist.

Die in der Charta verankerte Wahrung der Souveränität festigt die Nichteinmischung und untergräbt die Leistungsfähigkeit der UN.

Dies veranlasste im Jahr 2022 den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dazu, an der Rolle der UN bei der Friedensvermittlung zu zweifeln. In Bezug auf die humanitäre Lage konnte UN-Generalsekretär António Guterres Russland davon überzeugen, seine Blockade der ukrainischen Häfen aufzuheben und die Wiederaufnahme der Getreidelieferungen aus dem Schwarzen Meer zu gestatten. Russland konnte jedoch nur deshalb zu einem solchen Schritt überzeugt werden, da deutlich wurde, dass seine Maßnahmen den Hunger im Globalen Süden verschärfen,[13] was dem Ansehen Russlands und seinem geopolitischen Einfluss schadet.

Die Geopolitik beeinflusste auch die schwerste globale Gesundheitskatastrophe unserer Zeit, nämlich die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus und seiner Varianten, die weltweit zu Millionen von Todesfällen führten. China versuchte zunächst zu verhindern, dass Informationen über das Virus in die Öffentlichkeit gelangten, was zur Ausbreitung des Erregers beitrug. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) kam China sehr entgegen und zögerte mit der Ausrufung der COVID-19-Pandemie. Die USA unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump drohten mit einem Austritt aus der WHO und verweigerten internationale Hilfe. Daraufhin versuchten die P3, mittels ›Impfstoff-Diplomatie‹ weltweit Sympathien zu gewinnen. Die Hilfe wurde schließlich geleistet, und die Gefahr durch COVID-19 ist inzwischen gebannt. Allerdings hätte eine stärkere, internationa­le Zusammenarbeit ohne Konkurrenzdenken zu rechtzeitigeren und wirksameren Reaktionsmaßnahmen geführt.

 

Funktion und Dysfunktion der UN

Die ursprünglichen Ideale der Vereinten Nationen weisen unüberwindbare Schwachstellen auf. Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (Permanent Five – P5) war einst ein Zugeständnis an die Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta im Jahr 1945, um sie zum Beitritt zu den Vereinten Nationen zu gewinnen. Der Wortlaut der Charta impliziert aber auch, dass die Regierungen legitim und repräsentativ sind und das Wohl ihres Volkes verfolgten. Die UN können jedoch nicht effektiv sein, wenn die schlimmsten Verstöße gegen die Grundsätze der UN-Charta von den P5 selbst begangen werden, die nicht nur Konflikte verursachen oder diese unterstützen, sondern die auch ihr Veto gegen Interventionen nach Kapitel VII der UN-Charta einlegen. Die in der Charta verankerte Wahrung der Souveränität aller Mitgliedstaaten festigt den Grundsatz der Nichteinmischung, selbst wenn die Regierungen die Hauptverantwortlichen für die Gewalt gegen ihre eigene Bevölkerung darstellen. Dies untergräbt die Leistungs­fähigkeit der UN, der ›ersten Vereinten Nationen‹ – die UN der Mitgliedstaaten –, und die UN müssen nach zweitklassigen Alternativen zur Lösung der Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, suchen, sofern sie überhaupt Lösungen anbieten können.

Die Rolle des UN-Generalsekretärs als Hüter der Grundsätze der Charta ist entscheidend für die Maßnahmen, die die ›zweiten Vereinten Nationen‹ ergreifen können. Doch der Generalsekretär gilt nur als ›oberster Verwaltungsbeamter‹ des Sekretariats. Die Handlungsfähigkeit der UN hängt also von der Persönlichkeit und der Unabhängigkeit des jeweiligen Generalsekretärs – oder der Generalsekretärin – ab.

In den Anfangsjahren der Vereinten Nationen, insbesondere unter dem zweiten Amtsinhaber Dag Hammarskjöld, hat der Generalsekretär die Mitgliedstaaten eigenständig an ihre Verpflichtungen aus der Charta erinnert. Seine Nachfolger haben sich jedoch nie dasselbe Maß an Autorität zugestanden. Die Ernennung des Generalsekretärs bedarf der ausdrücklichen Zustimmung aller P5, und die Generalsekretäre akzeptieren als Gegenleistung für deren Zustimmung, dass den P5 hochrangige Posten vorbehalten sind. So besetzen die USA die Leitungsposten der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten und Friedenskonsolidierung (Department of Political and Peacebuilding Affairs – DPPA), des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations Children’s Fund – UNICEF) und des Welternährungsprogramms;[14] China über-nimmt die Leitung der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (Department of Economic and Social Affairs – DESA) sowie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations – FAO), die auch für die Überwachung der Entwicklungsthemen zuständig ist; Russland hat die Leitung des Genfer Büros der Vereinten Nationen und des neuen Büros für Terrorismusbekämpfung (Office of Counter-Terrorism – UNOCT) inne,[15] Frankreich hingegen leitet die Hauptabteilung Friedensmissionen (Department of Peace Operations – DPO) und das Vereinigte Königreich bekleidet das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – OCHA). Da diese Nominierungen meist aus den jeweiligen Außenministerien hervorgehen, basieren sie nicht auf Verdiensten, sondern auf Loyalität gegenüber den P5-Regierungen, was gegen die Artikel 100 und 101 der UN-Charta verstößt, die eine politische Unabhängigkeit vorsehen. Damit üben die P5 über ihr Leitungspersonal im Sekretariat heute de facto einen unverhältnismäßig großen und eigennützigen Einfluss auf den Generalsekretär aus

Auch die Finanzierung ist ein entscheidender Faktor. Die P5 und andere westliche Geber erwarten eine gewisse Gegenleistung für ihre finanziellen Beiträge. Im Widerspruch zu den Grundsätzen der Charta wird erwartet, dass ihre Beiträge dazu dienen, Einfluss in der Organisation zu gewinnen.[16]

Dennoch gibt es Maßnahmen, die die Vereinten Nationen und ihre Führungsebene ergreifen können, um konfliktbedingte humanitäre Krisen zu bewältigen – diese Maßnahmen lauten Prävention, Exponierung sowie Resilienz und Eindämmung.

Prävention: Ein Großteil der humanitären Not und der Vertreibung ist die Folge von Konflikten. Folglich müssen die Vereinten Nationen der Prävention mehr Aufmerksamkeit schenken und als kritische Antenne für Signale eines drohenden sozialen Zusammenbruchs, weit verbreiteter Menschenrechtsverletzungen oder eines drohenden Flächenbrands fungieren.[17] Die Hauptverantwortung für die Mediation und präventive Diplomatie liegt bei der DPPA, die ihr Mandat mit »Diplomatie, Prävention, Aktion« beschreibt.

Auch der Sicherheitsrat verfügt über verschiedene Instrumente. Er entsendet Untersuchungsmissionen in Staaten, in denen ein Konflikt droht. Die Ergebnisse sind jedoch nicht immer positiv: In den vergangenen Jahren konnten diese Missionen Konflikte in Burundi und Südsudan nicht verhindern.[18] In einem umfangreichen Bericht über den Sicherheitsrat fanden sich auf fast 1000 Seiten nicht mehr als ein paar Absätze zur Konfliktverhütung, und die Bilanz des Rates wurde als ›dürftig‹ bezeichnet.[19]

Das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen (United Nations Development System – UNDS), das sich aus mehr als 35 unabhängig verwalteten Organisationen zusammensetzt, ist das Rückgrat der UN-Feldpräsenz und umfasst rund 1400 eigenständige Länderbüros. In jedem Land, in dem es keine Friedensmission gibt, unterstehen die Vereinten Nationen formal einer residierenden UN-Koordinatorin oder einem UN-Koordinator, die oder der eher eine zusammenführende Rolle als eine praktische Koordinierungsfunktion gegenüber den vor Ort tätigen Organisationen ausübt.

Jedes P5-Mitglied, das ein Veto gegen eine Resolution im Rat einlegt, muss sein Vorgehen vor der UN-Generalversammlung erklären

Folglich werden die Signale eines bevorstehenden Konflikts oft übersehen oder ignoriert, wie in Ruanda in den 1990er Jahren kurz vor dem Genozid oder in Myanmar im Jahr 2017 vor der Vertreibung der Rohin­gya. Die DPPA und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme – UNDP) haben deshalb gemeinsam die Entsendung von Friedens- und Entwicklungsberaterinnen und -beratern in verschiedene Länder initiiert, denn die Beispiele von übersehenen Signalen eines drohenden Konflikts zeigen, wie wichtig es ist, die politische und menschenrechtliche Verantwortung mit der entwicklungspolitischen Rolle der UN zu verbinden. China und andere einflussreiche Staaten zögern jedoch, eine Ausweitung der Mandate der UN-Missionen im Entwicklungsbereich zuzulassen. Das UNDS unterstützt allerdings die Staaten auch bei der Verhütung von Natur­katastrophen – oder zumindest bei der Milderung ihrer Folgen –, indem es die lokalen Hilfsorganisationen stärkt und Leitlinien für eine wirksame Reaktion entwickelt.

Exponierung: Der Generalsekretär kann seine guten Dienste gemäß Artikel 99 der UN-Charta nutzen und »die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden.« Dabei muss er eng mit den rotierenden Präsidenten des Rates zusammenarbeiten. Die Aufnahme eines Themas auf die Tagesordnung sorgt dafür, dass es eine breitere Aufmerksamkeit erhält. Im Fall des Angriffskriegs gegen die Ukraine gelang es Guterres im Jahr 2022, dass Präsident Selenskyj nach einer Abstimmung unter den Mitgliedstaaten eine Anhörung über eine Online-
Zuschaltung erhielt. Auch in der Generalversammlung gab es mehrere Abstimmungen, die gegen die Interessen Russlands gerichtet waren. Beim jüngsten Beschluss stimmten die Mitgliedstaaten mit 141 Ja- und sieben Nein-Stimmen bei 32 Enthaltungen für eine Resolution, die zur Beendigung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine aufruft und im Einklang mit der UN-Charta den sofortigen Rückzug Russlands aus dem Land fordert.[20] Gemäß dem neuen Vorschlag Lichtensteins muss jedes P5-Mitglied, das ein Veto gegen eine Resolution im Rat einlegt, vor der UN-Generalversammlung sein Vorgehen erklären.[21]

Der Sicherheitsrat kann nicht nur Friedensoperationen ins Leben rufen, sondern auch Sanktionen nach Kapitel VII der UN-Charta verhängen. Das Vetorecht verhindert aber die Verhängung von Sanktionen gegen die P5. Die ›dritte UN‹, also die NGOs, können unter bestimmten Umständen durch eine öffentliche Kampagne die Verantwortlichen benennen und anprangern. Nachdem sich beispielsweise China aufgrund seiner engen Beziehungen zu Sudan, aus dem es Öl importiert, gegen die Einrichtung einer UN-Friedenstruppe in Darfur zur Verhinderung eines weiteren Völkermords ausgesprochen hatte, konnte die internationale Zivilgesellschaft mehrere Regierungen erfolgreich davon überzeugen, mit einem Boykott der Olympischen Spiele in Beijing im Jahr 2008 zu drohen. Und China hat nachgegeben.

Es gelang also Guterres, eine Vereinbarung über die Wiederaufnahme der Getreide- und Düngemittelausfuhren aus der Ukraine auszuhandeln, weil die UN den Einmarsch Russlands in die Ukraine als eine Haupt­ursache für die steigenden Lebensmittelpreise und den sich ausbreitenden Hunger in den ärmeren Ländern benannt hatten. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass humanitäre Maßnahmen nur deshalb notwendig wurden, weil die UN nicht in der Lage waren, einen von den P3 verursachten Konflikt zu verhindern oder zu beenden.

Resilienz und Eindämmung: Der Erfolg des Schwarzmeerabkommens über die Ausfuhr von Getreide hat dazu geführt, dass der Sicherheitsrat im Dezember 2022 eine Resolution verabschiedete,[22] die bei den UN-Sanktionsregelungen Ausnahmen vorsieht, um humanitäre Hilfe zur Deckung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu ermöglichen. Obgleich die Resolution zu begrüßen ist, gilt sie formal nicht für Sanktionsmaßnahmen, die nicht von den Vereinten Nationen verhängt wurden, wie beispielsweise die Sanktionen gegen Russland. Außerdem kommt sie viele Jahre zu spät, um die Krisen zu verhindern, die in der Vergangenheit ausgelöst wurden, wie etwa die humanitäre Katastrophe infolge der Sanktionen gegen Irak unter dem damaligen Präsidenten Saddam Hussein.

Doch die größte Herausforderung stellt die Bekämpfung des Klimawandels dar. Der Anstieg des Meeresspiegels und die zunehmende Wüstenbildung bedrohen die Lebensgrundlagen der Menschen und verursachen kostenintensive Maßnahmen zur Erhaltung der Natur. Dies führt zu Forderungen nach einer erheblichen Aufstockung der Hilfe, die die reichen Staaten jedoch nicht in ausreichendem Maße bereitstellen wollen. Neben den ökologischen Belastungen steigt auch die Zahl der Menschen, die aufgrund des Klimawandels fliehen. Die bestehenden Übereinkommen zum Schutz von Flüchtlingen vor Verfolgung, Krieg und Gewalt gelten nicht für Menschen, die vor klimabedingten Krisen fliehen. Einige Länder sind zwar bereit, Klimaflüchtlingen in begrenztem Umfang Schutz zu gewähren, aber auch hier braucht es das Engagement und die Ressourcen der Großmächte, um die Notlage dieser Menschen zu beheben.

 

Humanitäre Hilfe leisten, wo immer sie benötigt wird

Die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen hat sich in zweierlei Hinsicht gewandelt: Erstens wurde erkannt, dass die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung im Spannungsfeld zwischen menschlichem Wohlergehen und nationaler Souveränität an erster Stelle stehen. Und zweitens hat die humanitäre Hilfe in diesem Jahrhundert erheblich zugenommen. Ihre Finanzierung ist zur größten Herausforderung für die Vereinten Nationen geworden, was teilweise auf die humanitären Krisen infolge von Konflikten zurückzuführen ist, die die UN angesichts der Unnachgiebigkeit und der geopolitischen Interessen der Großmächte nicht verhindern oder beenden konnten. Die Prioritäten der UN sind dementsprechend klar: Humanitäre Hilfe leisten, wo immer sie benötigt wird, ungeachtet der widrigen Umstände; mit allen Mitteln versuchen, Frieden zu vermitteln und Konflikte zu beenden; und weiterhin Maßnahmen ergreifen, um die Auswirkungen von Naturkatastrophen und Klimawandel auf die Menschen zu begrenzen.

Die Maßnahmen der UN werden weiterhin von der Finanzierung durch die wohlhabendsten Mitgliedstaaten abhängig sein, darunter auch von Deutschland, das der viertgrößte Beitragszahler zum ordentlichen UN-Haushalt ist und der zweitgrößte zum UN-System insgesamt, was auch die Mittel außerhalb des Kernhaushalts umfasst. Die für das Jahr 2023 angekündigte Kürzung der deutschen Beiträge im Bereich der humanitären Hilfe und der Konfliktprävention um 500 Millionen Euro ist für die Vereinten Nationen, insbesondere für das UNHCR und das WFP,[23] ein ernsthafter Grund zur Sorge. Dieser mittlerweile revidierten Mittelkürzung steht jedoch die Bereitschaft der deutschen Regierung gegenüber, eine beträchtliche Anzahl von Menschen aufzunehmen, die vor Konflikten fliehen. Dieses Engagement ist eine völlig legitime Form der humanitären Hilfe.

Aus dem Englischen von Monique Lehmann

 

 

[1] Die humanitären UN-Maßnahmen wurden fälschlicherweise mit ihrer entwicklungspolitischen Arbeit in einer einzigen Säule zusammengefasst. Die im Jahr 2015 vereinbarten Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) enthalten jedoch kaum Vorgaben für humanitäre Maßnahmen, und im darauffolgenden Jahr wurde ein Sondergipfel abgehalten, um eine ›Agenda für die Menschlichkeit‹ zu erarbeiten. Außerdem haben die humanitären UN-Organisationen eigene Mandate, die sich kaum mit den langfristigen Zielen der UN-Entwicklungsorganisationen überschneiden. Zudem sind die humanitären Aktivitäten zunehmend mit größeren Konflikten verbunden, die friedensstiftende Interventionen erfordern, zu deren Lösung die UN immer weniger in der Lage sind.

[2] Stephen Browne, Aid and Influence: Patronage, Power and Politics, Abingdon 2022.

[3] Michael N. Barnett, The Humanitarian Club: Hierarchy, Networks and Exclusion, in: Michael N. Barnett et al. (Eds.), Global Governance in a World of Change, Cambridge 2021.

[4] Dag Hammarskjold Foundation, Financing the UN Development System: Joint Responsibilities in a World of Disarray 2022, Stockholm 2022.

[5] Stephen Browne, UN Reform: 75 Years of Challenge and Change, Cheltenham 2019, Kapitel 4.

[6] Peter Walker/Daniel Maxwell, Shaping the Humanitarian World, Abingdon 2009.

[7] UN Doc. A/RES/46/182 v. 19.12.1991.

[8] Larry Minear/Thomas G. Weiss, Mercy Under Fire: War and the Global Humanitarian Community, Boulder, CO, 1995.

[9] UN Doc. A/50/60 v. 3.1.1995.

[10] Commission on Global Governance, Our Global Neighbourhood, Report of the Commission, London/Oxford 1995, S. 71.

[11] International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICIS), The Responsibility to Protect, Ottawa 2001.

[12] Thomas G. Weiss, Humanitarian Business, Cambridge/Malden, MA, 2013, S. 29.

[13] Siehe dazu auch den Beitrag von Ralf Südhoff und Berit Reich in diesem Heft.

[14] Die USA haben eine bedeutende Rolle in den humanitären Organisationen inne, vor allem im WFP (an das sie ihre im Land produzierten Nahrungsmittelüberschüsse liefern), im UNHCR, wo sie einen der stellvertretenden Hochkommissare stellen, im UNICEF, das über eine aktive Hilfsorganisation verfügt, und in der Internationalen Organisation für Migration (International Organization for Migration – IOM), die bis zum Jahr 2018 zehn Jahre lang von einem Amerikaner geleitet wurde.

[15] Mit dieser Ernennung werden alle Versuche, die ständigen Angriffe des Landes auf die ukrainische Zivilbevölkerung als terroristische Aktionen zu bezeichnen, ad absurdum geführt.

[16] Max-Otto Baumann/Silke Weinlich, Funding the UN: Support or Constraint?, in: Stephen Browne/Thomas G. Weiss (Eds.), Routledge Handbook on the UN and Development, Abingdon 2020; Stephen Browne, Aid and Influence: Patronage, Power and Politics, Abingdon 2022.

[17] Siehe dazu auch den Beitrag von Marie Wagner in diesem Heft.

[18] Richard Gowan, Diplomacy in Action: Expanding the UN Security Council’s Role in Crisis and Conflict Prevention, Center on International Cooperation, New York 2017.

[19] Sebastian von Einsiedel/David Malone/Bruno Stagno Ugarte (Eds.), The UN Security Council in the 21st Century, Boulder, CO, 2016, S. 843.

[20] UN-Dok. A/RES/ES-11/6 v. 23.2.2023.

[21] UN-Dok. A/RES/76/262 v. 26.4.2022.

[22] UN-Dok. S/RES/2664 v. 9.12.2022.

[23] Damilola Banjo, Germany Is Ready to Cut Humanitarian Aid to UN Agencies and Elsewhere, PassBlue, 7.9.2022, www.passblue.com/2022/09/07/germany-is-ready-to-cut-humanitarian-aid-to-un-agencies-and-elsewhere/

 

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