Standpunkt | Ein Sondertribunal zur Aggression gegen die Ukraine? Nein.
Die Einsetzung eines Sondertribunals für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist mit zahlreichen Problemen verbunden.[1] Das Hauptproblem ist die Legitimation eines solchen Tribunals, vor allem aus Sicht des Globalen Südens. Sie könnte allenfalls durch eine entsprechende Resolution der UN-Generalversammlung erreicht werden, die im Rahmen ihrer besonderen ›Vereint für den Frieden‹-Zuständigkeit handeln müsste. Allerdings kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche Resolution die gleiche Unterstützung wie vorangegangene Resolutionen zur Verurteilung des russischen Angriffskriegs erhalten wird.
Dies liegt auch daran, dass eine Sonderbehandlung der Ukraine-Situation für die Mehrzahl der Staaten dieser Welt außerhalb Europas nicht nachvollziehbar ist. Warum wurden oder werden ihre Kriege nicht ebenso behandelt? Warum bedarf es überhaupt eines Sondertribunals neben dem bestehenden und auch zur Ukraine ermittelnden Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court – ICC), der doch gerade eingerichtet wurde, um die selektive Strafverfolgung durch solche Sondertribunale zu verhindern? Würde ein solches Aggressionstribunal, das sich per definitionem nur gegen Russland als den Aggressor richten würde, nicht als einseitig wahrgenommen und dementsprechend auch von der russischen Propaganda ausgeschlachtet werden? Wieso sollte nach jahrelangen Verhandlungen zum Aggressionsverbrechen im Rahmen des ICC und der Einigung auf ein – zugegebenermaßen enges – Zuständigkeitsregime nun diese diplomatische Einigung durch ein Sondertribunal umgangen und damit einen Präzedenzfall geschaffen werden? Wäre es nicht konsequenter, das ICC-Zuständigkeitsregime direkt zu reformieren, um damit die Verfolgung eines Angriffskriegs generell – nicht nur bezogen auf den russischen Angriffskrieg – zu erleichtern? Außenministerin Annalena Baerbock hat zwar inzwischen in ihrer Haager Rede eine solche ICC-Reform gefordert, doch bis heute hat weder Deutschland noch ein anderer Vertragsstaat des Römischen Statuts den notwendigen Reformprozess in Gang gesetzt.
Alle anderen bisher diskutierten Lösungen, etwa die Schaffung eines Sondertribunals durch den Europarat/die Europäische Union (EU) oder als Teil des ukrainischen Justizsystems, wären nicht nur aus legitimationstheoretischer Sicht kontraproduktiv, sondern hätte auch gravierende rechtliche Konsequenzen mit Blick auf die Handlungsfähigkeit eines solchen Tribunals. Vor allem könnte ein Ausschluss der persönlichen (staatlichen) Immunität der russischen Führung nur bei einem echten internationalen Tribunal rechtlich begründet werden. Andernfalls würde ein Sondertribunal gegenüber dem ICC einen Rückschritt darstellen, denn dort greift diese Immunität gerade nicht.
Überdies stellen sich zahlreiche rechtspraktische Probleme, die hier nur aufgezählt werden können: Wie soll ein solches Tribunal mit dem ICC konkret zusammenarbeiten? Wie soll Doppelarbeit mit Blick auf die Beweissammlung verhindert werden? Wie und wo soll ein solches Tribunal eingerichtet werden? Woher soll das Personal kommen? Die Befürworter scheinen bei alldem davon auszugehen, dass ein solches Tribunal innerhalb kürzester Zeit arbeitsfähig sein würde. Tatsächlich zeigen aber bisherige Erfahrungen, dass die volle Funktionsfähigkeit solcher Tribunale nicht Monate, sondern Jahre in Anspruch nimmt. Unter Umständen könnte die – notwendige – Reform des ICC-Zuständigkeitsregimes, insbesondere durch Schaffung einer Überweisungsmöglichkeit durch die UN-Generalversammlung, schneller erfolgen.
[1] Siehe dazu ausführlich Kai Ambos, Verfassungsblog v. 6.1.2023, verfassungsblog.de/a-ukraine-special-tribunal-with-legitimacy-problems/