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Standpunkt | Ein Sondertribunal zur Aggression gegen die Ukraine? Ja.

Prof. Dr. Dr. h.c. Anne Peters ist Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Dr. Robert Stendel ist dort Referent. Sie plädieren für ein Sondertribunal auf Grundlage eines Abkommens zwischen Ukraine und Europarat.

Statue Iustitia neben einer blauen UN-Flagge.
Statue der Justitia, Göttin der Gerechtigkeit. Foto: UN Photo/Rick Bajornas

»Niemand darf im 21. Jahrhundert einen Angriffskrieg führen und dabei straflos bleiben.« Den Worten der Außenministerin Annalena Baerbock vor der Haager Akademie für Völkerrecht wäre wenig hinzuzufügen, wenn der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court – ICC) über die russische Aggression entscheiden könnte. Jedoch ist dieser weder zuständig noch ist eine Reform seines Statuts derzeit wahrscheinlich. Daher bedarf es eines Sondertribunals. Eine Kooperation zwischen Europarat und Ukraine ist eine legitime Strategie, die Beteiligten an der russischen Aggression zur Rechenschaft zu ziehen.

Ein Haupteinwand gegen ein Sondertribunal über die russische Aggression ist, dass mit zweierlei Maß gemessen werde: Der ehemalige US-Präsident George W. Bush und der frühere britische Premierminister Tony Blair mussten sich nicht für die Irak-Invasion im Jahr 2003 verantworten, ebenso wenig die Staatsoberhäupter der NATO-Mitglieder für den Einsatz in Jugoslawien im Jahr 1999. Warum nun der russische Präsident Wladimir Putin? Eine Verankerung des Tribunals im Europarat entgeht diesem Vorwurf: Der Europarat war und ist für die USA nicht zuständig. Zudem unterscheidet den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine von Irak und Jugoslawien, dass hier ein Mitglied des Europarats ein anderes überfallen hat. Diese Situation rechtfertigt, dass eine nach ihrer Satzung der »Festigung des Friedens« in Europa dienende Organisation diesen »Krieg gegen die gemeinsame europäische Friedensordnung« (Baerbock) strafrechtlich aufarbeitet, aber keinen anderen.

Nach geltendem Völkerrecht ist die russische Führung um Präsident, Ministerpräsident und Außenminister vor staatlichen Gerichten immun, selbst bei schwersten Kriegsverbrechen. Es gefährdet die internationale Stabilität, wenn ein Staat über fremde Staatsorgane richtet. Die Immunität greift jedoch nicht vor internationalen Gerichten, weil diese die Strafgewalt der internationalen Gemeinschaft ausüben. Wann ist ein Sondertribunal hinreichend ›international‹? Ein Tribunal aufgrund einer Resolution der UN-Generalversammlung wäre es. Aber eine breite Mehrheit der UN-Mitglieder wird kaum dafür stimmen. Schon der Resolution, die ›nur‹ gefordert hat, Russland zur Verantwortung zu ziehen, stimmten lediglich 94 der 193 UN-Mitgliedstaaten zu. Für die jüngste Resolution vom 23. Februar 2023 zum russischen Angriffskrieg stimmten zwar 141 Staaten, diese nennt aber bezeichnenderweise das Verbrechen der Aggression nicht.

Besser sieht es im Europarat aus. Eine Zustimmung aller 46 Mitglieder ist wahrscheinlich. Eine regionale Legitimation ist zwar nicht ideal, wäre aber ausreichend, um dem Vorwurf der Siegerjustiz zu entgehen. Schließlich geht es um eine Aggression in Europa. Und 46 Staaten wären immerhin fast ein Viertel aller Staaten der Erde. Aber könnte ein solches europäisches Tribunal die Immunität der Angeklagten durchbrechen? Durchaus, da sich in Europa eine regionale Immunitätsausnahme für das Verbrechen der Aggression herauszubilden scheint. Die große Mehrheit der Mitglieder des Europarats bestraft den Angriffskrieg, so auch die Ukraine und Russland. 28 haben außerdem einer Strafverfolgung der Aggression durch den ICC zugestimmt.

Es ist nicht ratsam, im kurzfristigen Interesse der Stabilität und scheinbaren Befriedung ein so massives Verbrechen ungesühnt zu lassen. Den Urhebern muss signalisiert werden, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, sobald sie verhaftet sind. Zusätzlich sollte Deutschland dafür werben, die Zuständigkeit des ICC für Aggressionen zu erweitern. Bis dahin ist ein Sondertribunal aufgrund eines Abkommens zwischen Europarat und Ukraine die beste aller realistischen Optionen, um der Unterminierung der völkerrechtlichen Friedensordnung hier und jetzt entgegenzutreten.

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