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Kein ›Weiter so‹ in Haiti

Die aktuelle Gewalt in Haiti mit Zusammenstößen zwischen Banden und gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung trifft das Land hart. Sie wird auch als Ausdruck des Versagens bisheriger internationaler Bemühungen zur Stabilisierung gesehen. Besonders die Möglichkeiten der bekannten UN-Instrumente scheinen ausgeschöpft.

Menschen vor der Polizeistation von Pétion Ville, Port-au-Prince, in Haiti. UN Photo/Leonora Baumann
Menschen vor der Polizeistation von Pétion Ville, Port-au-Prince, in Haiti. UN Photo/Leonora Baumann

Die Gewalt in Haiti macht international vergleichsweise wenig Schlagzeilen. Mit Blick auf das UN-Engagement im Bereich Frieden und Sicherheit handelt es sich allerdings nicht unbedingt um einen ›vergessenen‹ Konflikt. Der UN-Sicherheitsrat tagt regelmäßig zu Haiti, das Mandat des Integrierten Büros der Vereinten Nationen in Haiti (United Nations Integrated Office in Haiti – BINUH) ist zuletzt einstimmig verlängert worden, ebenso wie das im Oktober 2022 etablierte Sank­tionsregime zu Haiti. Noch im Dezember 2023 wurden zudem vier weitere Personen auf die UN-Sanktionsliste gesetzt. Im Vergleich zu anderen, geopolitisch aufgeladenen Fällen kommen also weiterhin Beschlüsse zustande. Die Pro­blematik liegt eher darin, dass die UN-Ansätze ausgeschöpft scheinen und der Willen zu weitreichendem Handeln gering ist. Nachdem die UN mit einer Vielzahl unterschiedlicher Missionen im Land präsent waren, darunter 13 Jahre lang mit der multidimensionalen Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (United Nations Stabilization Mission in Haiti – MINUSTAH), hat sich der Eindruck verfestigt, dass die internationalen Instrumente nicht nachhaltig wirken. Viele Mitgliedstaaten zögern bei einem erneuten direkten Engagement angesichts von Art und Ausmaß der Gewalt durch bewaffnete Banden und den starken Vorbehalten gegen internationale Interventionen in Haiti.

Der Krieg, der keiner ist

Der deutliche Anstieg von Gewalt in Haiti seit dem Jahr 2017 folgt teilweise bekannten Mustern, zeigt aber auch Veränderungen. Tatsächlich handelt es sich aktuell wie auch bei früheren Eskalationen nicht um einen Bürgerkrieg zwischen einer staatlichen Partei und einer oder mehreren nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Vielmehr eskalierte die Gewalt immer wieder im Kontext von Militärputschen und politischen Spannungen einhergehend mit Menschenrechtsverletzungen. In jüngerer Zeit überwiegt immer mehr einseitige Gewalt gegen Zivilpersonen sowie zwischen bewaffneten Banden, die in Haiti seit langem nicht nur kriminellen Aktivitäten nachgehen, sondern häufig eng mit der Politik verflochten sind. Im Jahr 2022 gingen 74 Prozent der politischen Gewalt auf Zusammenstöße zwischen Banden sowie gezielte Gewalt von Banden gegen Zivilpersonen zurück. Zudem zeigt sich eine deutliche Proliferation bewaffneter Gruppen, deren Zahl binnen eines Jahres von 48 auf mindestens 74 im Jahr 2022 anstieg, so eine Schätzung.[1] Zuletzt waren vor allem zwei Koalitionen von Gangs relevant, namentlich die G9-Koalition unter Jimmy Chérizier, der als erster und damals einziger Akteur im Oktober 2022 von den UN sanktioniert wurde, sowie die rivalisierende G-Pèp-Allianz geführt von Jean Pierre Gabriel.

Dagegen war in vergangenen Gewalteskalations­phasen staatlich basierte Gewalt vorherrschend, das heißt solche, an der mindestens auf einer Seite die Regierung beteiligt ist (siehe Abbildung 1, S. 5). Die deutlich erkennbaren Gewaltausbrüche in den Jahren 1989 und 1991 standen dabei im Zusammenhang mit einem Putschversuch und folgenden gewaltsamen Protesten, die die Regierung von General Prosper Avril zu Fall brachten, sowie einem erfolgreichen Putsch gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide, der letztlich im Jahr 1994 mit Unterstützung einer US-geführten Intervention wieder ins Amt zurückkehrte.

Auch die nächste Gewaltspirale hing mit einer Krise der nach wie vor von Aristide geführten Regierung zusammen, gegen die sich zunehmend Protest im Land regte. Eine paramilitärische Gruppe nahm nach und nach verschiedene Städte ein, was im Februar 2004 in der Absetzung der Regierung gipfelte. Auch externe Akteure spielten wie so häufig in Haitis Geschichte eine zentrale Rolle, allen voran die USA, die Aristide unter Druck setzten, abzutreten und ins Exil zu gehen. In der Folge kam es zu Protesten von militanten Aristide-Anhängern mit brutaler Gewalt im Rahmen der sogenannten ›Operation Bagdad‹ und teils massiven Gegenmaßnahmen der Polizei.[2]

Neben Aristide nutzten verschiedene Regierungen und Eliten bewaffnete Banden über Jahrzehnte zur Einschüchterung oder um Geld und Stimmen bei anstehenden Wahlen einzutreiben.[3] So kam es auch zu einer Zunahme der Gewalt durch Gangs im Vorlauf zu den letzten nationalen Wahlen im Jahr 2016.[4] Das Konfliktgeschehen spielte sich entsprechend häufig in den urbanen Zentren ab, insbesondere den Armenvierteln von Port-au-Prince. Hier lag auch im Jahr 2022 das Zentrum der Gewalt zwischen der G9 und G-Pèp, vor allem bei dem Kampf um die Vorherrschaft im Viertel Cité Soleil im Juli, der hunderte Tote forderte. Zivilpersonen geraten in solchen Fällen ins Kreuzfeuer, sie werden aber auch ganz gezielt von den Banden attackiert. Diese kontrollieren die Viertel mit äußerst brutalen Methoden darunter auch sexualisierte Gewalt, die sich allein in den Jahren 2021 und 2022 verdreifacht hat.[5] Zudem bleibt die Zahl an Entführungen hoch, die vor allem der Lösegeld­erpressung dienen – von Januar 2022 bis Juni 2023 wurden 2441 entführte Personen erfasst, wobei es vermutlich eine hohe Dunkelziffer gibt.[6] Die notorisch unterbesetzte Polizei Haitis (PNH) ist ebenfalls mit den Banden verflochten, wobei Beamte immer wieder direkt bedroht und ermordet werden. Mittlerweile stehen ungefähr 80 Prozent des Stadtgebiets unter der Kontrolle der Banden, wobei letztlich ganz Port-au-Prince von Bandengewalt betroffen ist. Auch andere Landesteile etwa nördlich der Hauptstadt sind inzwischen Schauplatz von gewaltsamen Aktivitäten verschiedener Gruppen.  Die Krise hat sich zunächst nach dem Abzug der MINUSTAH im Jahr 2017 und dann noch einmal mit der Ermordung des amtierenden Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 verstärkt. Dabei haben die Banden ihre Position gestärkt und scheinen sich zunehmend dem Zugriff politischer Eliten zu entziehen. Dies hat auch massive humanitäre Folgen. Die Gewalt hat generell die Lebensmittelpreise nach oben getrieben und behindert das öffentliche Leben insoweit, dass etwa die Situation in Cité Soleil als humanitäre Notlage eingestuft wird. Gleichzeitig konnte im Jahr 2023 nur ein Bruchteil, etwa zehn Prozent, der bedürftigen Bevölkerung landesweit mit Nahrungsmittelhilfe versorgt werden.[7]

Die MINUSTAH wurde so etwas wie ein ›Laboratorium für Stabilisierung‹.

Ein weiterer Aspekt in der Gewaltspirale ist die weitgehende Straffreiheit und die beinahe folgerichtige Gründung von Selbstverteidigungsgruppen. Im April 2023 wurde das ›Bwa Kale Movement‹ gegründet, das für hunderte Tötungen von vermeintlichen Gangmitgliedern verantwortlich gemacht wird. In der Vergangenheit kam bei einer solchen Zuspitzung der Situation in der Regel eine UN-Mission ins Spiel, selbst wenn einzelne Nationen wie die USA kurzzeitig eigene Interventionstruppen einsetzten. Dass dies bei dieser jüngsten Krise anders ist, hat auch mit den Erfahrungen des bisherigen Engagements zu tun.

UN-Friedensmissionen: eine ausgeschöpfte Option?

Unter den zahlreichen UN-Missionen in Haiti[8] umfassten zwei – die in den Jahren 1993 bis 1996 bestehende Mission der Vereinten Nationen in Haiti (United Nations Mission in Haiti – UNMIH) sowie die in den Jahren 2004 bis 2017 entsandte MINUSTAH – eine größere Entsendung von Blauhelmen und Polizeikräften. Dabei war die MINUSTAH zusammen mit der UN-Mission in der Demokratischen Republik Kongo der erste Fall einer zur Stabilisierung mandatierten UN-Mission.[9] Nach der Entmachtung von Präsident Aristide und der Einsetzung einer Übergangsregierung im Jahr 2004 hatte sie weitreichende Ziele wie die Wiederherstellung von Sicherheit, die Unterstützung eines demokratischen politischen Prozesses inklusive von Wahlen und der Entwicklung von Institutionen.[10] Zudem war ein wichtiges Element im Mandat die Reform der Polizei. Tatsächlich war dies in Haiti, anders als in anderen Kontexten von Friedenssicherungsmissionen, seit den 1990er Jahren ein zentraler Ansatzpunkt. Aristide hatte die haitianische Armee nach seiner Wiedereinsetzung aufgelöst und die USA wie die UN nahmen eine wichtige Rolle bei der Schaffung der PNH Mitte der 1990er Jahre ein. Verschiedene Missionen wie auch bilaterale Unterstützung fokussierten sich in der Folge auf das Training, die Überwachung und Ausstattung der Polizei. UNMIH war zudem die erste UN-Mission mit bewaffneten Polizeibeamten, die selbst Verhaftungen durchführen konnten.[11]

Nicht nur an diesem Punkt waren die UN-Missionen in Haiti Vorreiter und gleichzeitig Versuchsfeld. Nachdem sich mit dem Ende der UN-Polizeimission im Jahr 2000 gezeigt hatte, dass die haitianische Polizei schnell an Kapazität und Glaubwürdigkeit einbüßte,[12] stand die MINUSTAH bei ihrer Entsendung im Jahr 2004 vor einer schwierigen Aufgabe. Sie musste mit der Polizeibehörde zusammenarbeiten, die die zentrale Sicherheitsins­titution war und gleichzeitig durch starke politische Instrumentalisierung sowie durch Korruption und Involvierung in den Drogenhandel diskreditiert war. UN-Personal führte unter anderem gemeinsam mit PNH-Beamten Operationen gegen die Gangs durch, wobei die Mission kein exekutives Mandat wie beispielsweise in Timor-Leste hatte.

Die MINUSTAH wurde so etwas wie ein ›Laboratorium für Stabilisierung‹. Nachdem sie sich zunächst noch vorrangig auf traditionelle ›Rezepte‹ der Friedenssicherung gestützt hatte, entwickelte die Mission neue Praktiken. So baute sie etwa über ihre Analysezelle (JMAC) ein Netz aus bezahlten Informanten zu den Aktivitäten der Banden in den Städten auf – ein Aspekt, der ausschlaggebend war für einige Erfolge im Vorgehen gegen diese im Jahr 2007.[13] Die MINUSTAH stellte zudem ein Programm zur Verringerung der Gewalt in Gemeinschaften auf. Da die bekannten Ansätze von Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung (Disarmament, Demobilisation and Reintegration – DDR) in Haiti kaum griffen, enthielt diese neue Art von Programm unter anderem Komponenten zur Stärkung und Einbindung lokaler Strukturen und zur Beschäftigungsförderung für ehemalige Bandenmitglieder und gefährdete Jugend­liche. Zumindest werden dem Ansatz gewisse Erfolge bei der Stärkung von Gemeinschaften zugerechnet, sodass er danach auch in anderen Missionen Anwendung fand.[14] Tatsächlich stabilisierte sich die Situation zum Ende der ersten Missionsphase zumindest oberflächlich und die politische Gewalt ebbte ab. Insgesamt wird die Bilanz des internationalen Engagements in Haiti aber als bestenfalls gemischt angesehen – schon aufgrund der neuerlichen Instabilität und Gewalt.[15] Dafür, dass die Erfolge der MINUSTAH nicht nachhaltig waren, werden verschiedene Gründe angeführt.

Zunächst erschwerten verschiedene Naturkatas­trophen die Bedingungen weiter – allen voran das schwere Erdbeben im Jahr 2010. Tatsächlich wurde vor diesem Ereignis bereits die Umwandlung der MINUSTAH erwogen, nachdem sich die Gewalt deutlich reduziert hatte und Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden konnten. Dann aber führte das Erdbeben zum Tod von über 200 000 Menschen, einer humanitären Notlage und der Zerstörung wichtiger Infrastruktur, darunter von Regierungsinstitutionen und der Polizei. Die personell und logistisch ebenfalls betroffene MINUSTAH musste aufgestockt und von tausenden Truppen der USA und europäischer Staaten unterstützt werden.

Zudem waren politische Voraussetzungen für bleibende Verbesserungen kaum gegeben. Entscheidend wäre eine Gastregierung gewesen, die eine Polizeireform unterstützt und von der sich gleichzeitig die Bevölkerung vertreten fühlt. Stattdessen setzten haitianische Eliten weiter eher auf externe Unterstützung, um Macht zu erlangen oder zu sichern. Im Wesentlichen schienen zum Zeitpunkt von MINUSTAHs Abzug viele der früheren Gründe für Instabilität und Unsicherheit weiterzubestehen, darunter ein dysfunktionales Justizsystem, Korruption und die Instrumentalisierung von bewaffneten Gruppen.[16]

Möglicherweise übersteigt es schlicht die Fähigkeiten einer Friedenssicherungsmission, wirkungsvoll solche Ursachen zu adressieren. Jedenfalls reichte der als ›Ad-hoc-Eindämmung‹ beschriebene Ansatz der Mission[17] kaum aus, um die politische Ökonomie Haitis zu verändern. Aus dieser Sicht scheiterte die MINUSTAH an ihrer politisch-militärischen Ausrichtung, die sie nicht in die Lage versetzte, mit den Bedingungen eines ›kriminalisierten Friedens‹ umzugehen. Unter anderem fehlte es an genauen Analysen über die Netzwerke von Korruption und organisierter Kriminalität, die auch die Institutionen der Polizei und des Justizwesens unterminierten. Kritisiert wird die MINUSTAH auch dafür, sich bei der Reform der Polizei zu passiv verhalten zu haben. So wurde die PNH direkt unterstützt, während sie selbst zur Unsicherheit beitrug. Parallel zu dem Kapazitätsaufbau im Sicherheitsbereich schienen die Signale an politische Eliten nahezulegen, dass autoritäres Verhalten letztlich wenig Konsequenzen hatte.[18]

Mit Blick auf die operative Ebene wird zudem das direkte, gewaltsame Vorgehen gegen Banden als problematisch eingeschätzt. Die UN-Kräfte standen vor der Schwierigkeit, dass sie bei der Strafverfolgung Seite an Seite mit der PNH an gewaltsamen Einsätzen teilnahmen und letztlich die Hauptverantwortung für die öffentliche Sicherheit übernahmen. Hier scheiden sich allerdings die Geister, welche Aspekte vorrangig kritisch waren. Teilweise wird das Vorgehen gegen die Anführer von Banden in den Armenvierteln von Port-au-Prince durchaus als Erfolgsmodell bewertet.[19] Aus anderer Sicht war dieser Testfall für urbane Aufstandsbekämpfungsoperationen durch Friedenstruppen problematisch, da die Mission einer Konfliktpartei ähnlich wurde.[20] Faktisch traf die Gewalt in den dicht besiedelten Vierteln der Hauptstadt jedenfalls auch die Zivilbevölkerung. Zudem wird kritisiert, dass in der zweiten Phase der Mission ab etwa dem Jahr 2011 vor allem kleinere Gruppen internationaler Polizeibeamter hinter der PNH eingesetzt wurden – ein Modell, dass sich schon zum Ende der UNMIH als wenig effektiv herausgestellt hatte. Unabhängig von der Bewertung der Gründe zeigten sich die zunehmenden Schwierigkeiten auch in der Sichtweise der Bevölkerung. So hatten im Jahr 2011 noch 70 Prozent der haitianischen Bevölkerung der Polizei bescheinigt, gute Arbeit zu leisten; im Jahr des MINUSTAH-Abzugs waren es nur noch 45 Prozent, während gleichzeitig die Zahl der Personen, die von der PNH im Vorjahr nach Bestechungsgeld gefragt worden waren, deutlich anstieg.[21]

Mit fortschreitender Dauer der Mission und dem Ausbleiben von politischen Fortschritten schwand auch das internationale Interesse.

Generell stellte sich eine zunehmende Ernüchterung, bisweilen auch Ablehnung der UN-Präsenz in der Bevölkerung ein. Vorrangig werden als Gründe hierfür der von Blauhelmen verursachte Cholera-Ausbruch nach dem Erdbeben im Jahr 2010 und die steigende Zahl an Fällen von sexuellem Missbrauch und Ausbeutung durch Blauhelme genannt. Es waren aber nicht nur die Skandale selbst, sondern auch das zögerliche und bisweilen als verantwortungslos empfundene Verhalten im Umgang mit ihnen, die die Unterstützung für die Mission merklich schwinden ließen.[22]

Mit dem Ausbleiben von substanziellen politischen Fortschritten schwand auch das internationale Interesse. Der Rückhalt im Sicherheitsrat ließ mit der neuen US-Regierung unter Donald Trump und dem verstärkten Druck auf das Budget von Friedensmissionen merklich nach. Zwar wurde mit der Mission der Vereinten Nationen zur Unterstützung der Justiz in Haiti (United Nations Mission for Justice Support in Haiti – MINUJUSTH) eine Nachfolgemission mit einem zivilen Schutzmandat beschlossen, die sich auf die Unterstützung und Entwicklung der PNH fokussierte. Doch dieser Ansatz setzte nicht wirklich bei den Bedarfen und der Entwicklung vor Ort an, sondern spiegelte vor allem die Kompromissfindung im Sicherheitsrat wider. Nach der beschlossenen Entsendung der Mission für zwei Jahre nahm das Gremium eine abwartende Haltung ein und entschied erst spät, welche Art von UN-Präsenz nach dem Auslaufen von MINUJUSTH folgen sollte.[23]

Die negative Entwicklung der Sicherheitslage nach dem Abzug der MINUSTAH deutet darauf hin, dass die Mission für die Sicherheit in Haiti bedeutsam war, aber nicht den Weg zu einer dauerhaften Stabilisierung ebnen konnte.

Ausweg nicht in Sicht

Die dargestellten Erfahrungen schwingen deutlich in der heutigen Debatte über den internationalen Umgang mit der jüngsten Gewalteskalation in Haiti mit. Nach der Ermordung von Präsident Moïse im Jahr 2021 riefen haitianische Offizielle nach einer internationalen Intervention. Doch nicht nur in Haiti bestehen Vorbehalte gegenüber solch einem neuerlichen externen Eingreifen. Eine weitere UN-geführte Mission trat in der Debatte zurück hinter eine vom Sicherheitsrat mandatierte multinationale Unterstützungsmission unter der Führung eines Landes. Staaten wie Kanada und die USA, seit langem zentrale Akteure in Haiti, oder Brasilien, das über weite Strecken die militärische Komponente der MINUSTAH geleitet hatte, zeigten allerdings wenig Interesse daran, eine solche Operation zu führen.

Die politischen Rahmenbedingungen könnten kaum schwieriger sein. Nachdem seit dem Jahr 2016 keine Wahlen mehr stattgefunden haben und die Amtszeiten amtierender Senatorinnen und Senatoren ausgelaufen sind, gibt es keine demokratisch gewählten Mandatsträgerinnen und -träger mehr in Haiti. Premierminister Henry, dessen Amtszeit Anfang des Jahres 2022 auslief, ist hoch umstritten;[24] sein im Dezember 2022 bekannt gegebener nationaler Konsens für einen inklusiven Übergang und transparente Wahlen wird von verschiedenen politischen wie zivilgesellschaftlichen Akteuren abgelehnt. Momentan gibt es weitere Bemühungen, den Konsens auszuweiten, etwa durch Konsultationen der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM). Doch das Misstrauen gegenüber den zerstrittenen politischen Eliten bleibt, ebenso wie gegenüber ausländischen Mächten sowie teilweise auch das BINUH, die gerade von zivilgesellschaftlichen Akteuren in Haiti immer wieder für ihre Haltung gegenüber der Regierung Henry kritisiert werden.[25]

Im Sicherheitssektor hat die noch unter Moïse getroffene Entscheidung zur Remobilisierung der haitianischen Armee weiteren Schaden angerichtet und vermutlich zur Destabilisierung beigetragen.[26] Faktisch bleibt die PNH die einzige wirkliche Sicherheitsbehörde im Land, die jedoch gegenüber den erstarkten Banden unter den aktuellen Umständen weitgehend auf verlorenem Posten ist. Die UN und internationale Partner haben einen Sicherheitsfonds gegründet, um die Polizei mit Training und Ausstattung zu unterstützen. Doch BINUH als politische Mission hat nicht die Mittel, die erodierende Sicherheitslage wirklich zu adressieren. Auch die im März 2023 neu ernannte Sondergesandte María Isabel Salvador rief den Sicherheitsrat im April dringlich dazu auf, zu handeln und eine internationale, spezialisierte Truppe zu autorisieren.[27]

Nach langer Suche erklärte sich letztlich Kenia bereit, eine Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission (Multinational Security Support Mission – MSS) anzuführen. Nach einem entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrats Anfang Oktober 2023 stoppte allerdings Kenias Höchstes Gericht die Entsendung der etwa 1000 Polizeikräfte, die auch ein temporäres exekutives Mandat in Ausnahmefällen hätten.[28] Neben den zahlreichen finanziellen, logistischen und operativen Herausforderungen einer MSS-Mission liegt das zentrale Dilemma darin, dass es dringlich eine legitime haitianische Führung braucht, während die Organisation eines Wahlprozesses vor nahezu unlösbaren Problemen steht.

Unter Präsident Moïse erreichten politisch-kriminelle Arrangements eine neue Dimension, da er vor allem die G9 als eine Art Gegenmacht aufbaute, um seine zunehmend autoritäre Regierungsführung abzusichern.[29] Um diese zumindest ansatzweise aufzubrechen, sanktionierten die USA und Kanada unilateral verschiedene politische und wirtschaftliche Akteure in Haiti. Darüber hinaus bestehen die erwähnten UN-Sanktionen gegen inzwischen fünf Anführer von Banden sowie ein Waffenembargo weiter. Letzteres wurde im Oktober 2023 auf Haiti insgesamt ausgeweitet.[30] Doch die Sanktionen müssen besser umgesetzt und genutzt werden. Selbst wenn der Sicherheitsrat die Maßnahmen anpasst, muss er sie wirkungsvoll mit anderen Instrumenten verbinden und konkret an politische Ziele koppeln.[31] Ein ›Weiter so‹ mit der Fortführung bekannter Muster und Ansätze gilt es angesichts der bisherigen Erfahrungen der UN in Haiti zu vermeiden.

 

[1] Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), Haiti: Expanding Gang Activity Amid Persisting Political Instability, Conflict Watchlist 2023, acleddata.com/conflict-watchlist-2023/haiti/

[2] Jane Regan, Haiti: In Bondage to History?, 25.9.2007, nacla.org/article/haiti-bondage-history

[3] Vanda Felbab-Brown, Haiti in 2023: Political Abyss and Vicious Gangs, Brookings, 3.2.2023.

[4] John D. Ciorciari, Haiti and the Pitfalls of Sharing Police Powers, International Peacekeeping, 29. Jg., 3/2022, S. 384–412.

[5] ACLED, Haiti, a.a.O. (Anm. 1).

[6] UN Doc. S/2023/674 v. 15.9.2023, S. 21.

[7] Famine Early Warning Systems Network, Latin America and the Caribbean – Food Security Outlook, October 2023–May 2024.

[8] UN Peacekeeping, Past Peace Operations, peacekeeping.un.org/en/past-peacekeeping-operations

[9] Stefan Bakumenko, The United Nations’ Modernity Problem: A Stabilisation Doctrine for the Future?, Global Change, Peace & Security, 34. Jg., 1/2022, S. 17–35.

[10] Adam Day et al., Peacebuilding and Authoritarianism: The Unintended Consequences of UN Engagement in Post-conflict Settings, New York 2021, S. 36.

[11] Ciorciari, Haiti, a.a.O. (Anm. 4).

[12] Namie Di Razza, Mission in Transition: Planning for the End of UN Peacekeeping in Haiti, International Peace Institute (IPI), Dezember 2018, S. 13.

[13] James Cockayne, Winning Haiti’s Protection Competition: Organized Crime and Peace Operations Past, Present and Future, International Peacekeeping, 16. Jg., 1/2009, S. 77–99.

[14] Carla King et al., MINUSTAH is Doing Positive Things Just as They Do Negative Things: Nuanced Perceptions of a UN Peacekeeping Operation Amidst Peacekeeper-perpetrated Sexual Exploitation and Abuse in Haiti, Conflict, Security & Development, 21. Jg., 6/2021, S. 749–779.

[15] Zorzeta Bakaki/Han Dorussen, Trust in Peacebuilding Organizations: A Survey Experiment in Haiti, World Development, Nr. 172, Dezember 2023, S. 18.

[16] Di Razza, Mission in Transition, a.a.O. (Anm. 12).

[17] So von Cockayne, Winning Haiti’s Protection Competition, a.a.O. (Anm. 13).

[18] Day et al., Peacebuilding, a.a.O. (Anm. 10).

[19] Charles T. Call, Haiti Needs a New, Improved UN Mission, Brookings Commentary, 2.12.2021.

[20] Bakumenko, The United Nations’ Modernity Problem, a.a.O. (Anm. 9).

[21] Von knapp fünf Prozent im Jahr 2011 auf 50 Prozent im Jahr 2017 und rund 85 Prozent im Jahr 2019, siehe Abbildung 4 in Athena R. Kolbe, Prospects for Post-Minustah Security in Haiti, International Peacekeeping, 27. Jg., 1/2020, S. 44–57.

[22] Zur Wahrnehmung der MINUSTAH im Kontext sexuellen Missbrauchs und Ausbeutung siehe etwa King et al., MINUSTAH, a.a.O. (Anm. 14).

[23] Di Razza, Mission in Transition, a.a.O. (Anm. 12), S. 22, 38.

[24] Er war kurz vor dessen Tod von Moïse ernannt, aber noch nicht offiziell ins Amt eingeführt worden.

[25] Siehe etwa medico international e.V., Kritik an UN und Core Group: Haitianische Menschenrechtler fordern in Berlin zivile Lösung statt Militärintervention, 20.06.2023, www.presseportal.de/pm/14079/5538725

[26] Ciorciari, Haiti, a.a.O. (Anm. 4), S. 405.

[27] UN Doc. S/PV.9311 v. 26.4.2023, S. 3–4.

[28] Siehe UN-Dok. S/RES/2699 v. 2.10.2023, Para. 3. Ende Januar 2024 verbot das Gericht dann die Entsendung, da der Nationale Sicherheitsrat rechtlich nicht dazu befugt gewesen sei.

[29] Dies wird auch als Auslöser für die Ermordung von Moïse durch kolumbianische Söldner gesehen, siehe César Niño/Camilo González, Phantom State in Haiti: Criminal Sovereignty and the Mercenary Remedy, Trends in Organized Crime, 2.8.2022.

[30] UN-Dok. S/RES/2699, a.a.O. (Anm. 28), Para. 14. Ausnahmen gelten unter anderem für die Ausstattung von UN- oder UN-autorisierten Missionen.

[31] Judith Vorrath, Neue UN-Sanktionen zu Haiti: Worauf es jetzt ankommt, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Kurz gesagt, 27.10.2022, www.swp-berlin.org/publikation/neue-un-sanktionen-zu-haiti-worauf-es-jetzt-ankommt

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