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„Wir sind auf halbem Wege, aber noch weit vom Ziel entfernt.“

Interview mit Ulrika Modéer, beigeordnete Generalsekretärin, beigeordnete Administratorin und Direktorin des Büro für Außenbeziehungen und Interessenvertretung des UN-Entwicklungsprogramms über die Umsetzung der SDGs, Geschlechtergleichstellung und eine besondere aktuelle Herausforderung für UNDP.

Links im Bild sitzt Ulrika Modéer, rechts ZVN-Chefredakteur Patrick Rosenow und Webportal-Redakteurin Sophie Humer-Hager.
Interview mit Ulrika Modéer am 9. Mai 2023 in Berlin. (Foto: UNDP Deutschland)

Sophie Humer-Hager (SHH): Dieses Jahr findet die Halbzeitüberprüfung der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) statt: Wie bewerten Sie die bisherigen Fortschritte und was muss die internationale Gemeinschaft bis zur Erreichung der Ziele im Jahr 2030 noch leisten?

Ulrika Modéer: Auf dem Gipfeltreffen zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung während der Generalversammlung im September dieses Jahres werden wir eine Bestandsaufnahme machen. Dabei werden wir berücksichtigen, was in den letzten Jahren im Rahmen der COVID-19-Pandemie und deren schwerwiegenden Folgen für die sozioökonomische Lage in bestimmten Ländern geschehen ist. Durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme - UNDP) wissen wir, dass 52 Staaten so hoch verschuldet sind, dass sie kaum noch Zugang zum Kapitalmarkt haben. Hinzu kommt die weltweite Wirtschaftskrise, die sich auf die Kraftstoff- und Energiepreise auswirkt und zu einer Krise der Lebenshaltungskosten geführt hat. Wie das UNDP und einige Jugendvertreter und -vertreterinnen auf dem letzten Jugendforum des Wirtschafts- und Sozialrats (Economic and Social Council – ECOSOC) bereits sagten: „Wir sind auf halbem Wege, aber noch lange nicht am Ziel“. Laut unserer Berichte gibt es bei 30 Prozent der SDGs sogar einen Rückwärtstrend. Wir bewegen uns also noch nicht einmal langsam vorwärts, sondern tatsächlich rückwärts. Das ist natürlich wirklich äußerst besorgniserregend.

Die Verhandlungen über die SDGs bis zum Jahr 2015 war einer der beratungsintensivsten und ein äußerst integrativer Prozess, der jemals auf internationaler Ebene stattgefunden hat. Er führte zu der bedeutsamen Entscheidung, die wirtschaftliche mit der sozialen Nachhaltigkeit zu verbinden und dabei auch die Grenzen unseres Planeten zu berücksichtigen. Diese Agenda ist wichtiger als je zuvor, und sie ist relevanter als je zuvor. Wenn wir im heutigen Umfeld verhandeln würden, mit den derzeitigen Konflikten und extrem vielen konkurrierenden Interessen, würden wir nicht noch einmal zu so zukunftsweisenden Entscheidungen finden.

Patrick Rosenow (PR): Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein wesentlicher Bestandteil der SDGs.  Wo stehen wir derzeit in der Frage der Gleichstellung der Geschlechter? Was sind die größten weltweiten Herausforderungen?

Der Generalsekretär spricht von einer Gegenreaktion und von der Notwendigkeit, sich gegen die Rückschritte der letzten Jahre zu wehren. Wir beobachten seit einigen Jahren – und das ist Teil unserer Arbeit für den Bericht über die menschliche Entwicklung (Human Development Report – HDR) - wie sich die sozialen Normen in einigen Staaten verändern, aber auch welche Trends sich weltweit entwickeln. Ich glaube, es ist jetzt zwei, fast drei Jahre her, dass wir hierzu den ersten Index für geschlechtsspezifische soziale Normen (Gender Social Norms Index - GSNI) herausgaben, den wir jetzt kürzlich aktualisiert haben.

Die Vorurteile gegen – und das immer stärkere Zurückdrängen des Themas – Geschlechtergleichstellung sind natürlich ein Grund zur Besorgnis, denn sie ist ja ein Schlüsselinstrument für die Verwirklichung der Rechte der Frauen, aber auch für die Entwicklung von Gesellschaften insgesamt. Es gibt auch immer mehr Falsch- und Desinformation zum Thema Gleichstellung der Geschlechter. Die Rechte der Frauen werden zum Teil zu dem, was heutzutage unter ›Kulturkampf‹ läuft. Unsere Kolleginnen und Kollegen vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund – UNFPA) konnten zum Beispiel nach den Verhandlungen der Kommission für Bevölkerung und Entwicklung (Commission on Population and Development – CPD) im April dieses Jahres kein Ergebnisdokument vorlegen, weil es einfach zu viele Widerstände bei den Themen sexuelle und reproduktive Gesundheit und den damit verbundenen Rechten gab. Um einen Rückschritt statt eines Fortschritts in diesem Bereich zu vermeiden, entschieden sich die Mitgliedstaaten also gegen ein Ergebnisdokument. Jetzt, wo sich dieser Rückwärtstrend und die Widerstände so deutlich zeigen, müssen wir noch strategischer vorgehen, um die Agenda nach vorne bewegen zu können.

PR: In Bezug auf die Arbeit des UNDP: Wie bewerten Sie die Reformen des Systems der Residierenden Koordinatorinnen und Koordinatoren, das vom UNDP zum UN-Sekretariat verlagert wurde, um eine stärkere Zentralisierung zu erreichen?

Die Reform hat dem UNDP in vielerlei Hinsicht die Möglichkeit gegeben, sein eigenes Entwicklungsangebot neu zu definieren, was für uns sehr wichtig ist. Unser Mandat ist es, einen rechte- und genderbasierten Ansatz in unsere Arbeit zu integrieren, um sicherzustellen, dass auch dieser in die national festgelegten Beiträge (Nationally Determined Contributions – NDCs) für die nationalen Klimaschutzpläne zur Reduzierung von Kohlendioxid-Emissionen in die zentrale Haushaltsplanung integriert wird. Uns vertrauen die Staaten, wenn es um die Unterstützung von Entwicklung und Armutsbekämpfung geht. Dafür mussten wir viel Zeit und Mühe aufwenden, während wir uns jetzt unter der Leitung von Achim Steiner viel mehr darauf konzentrieren können, die Länder bei der Suche nach integrierten Lösungen für ihre Entwicklung zu unterstützen.

Als wir die Koordinierungsrolle abgaben, übertrugen uns die Mitgliedstaaten auch die Aufgabe, nach diesen integrierten Systemlösungen zu suchen, und dies sind jetzt genau die Lösungen, die jeder im Vorfeld des SDG-Gipfels im September fordert. Ich denke, in diesem Sinne war die Reform gut für das UNDP und für die Mitgliedstaaten. Manchmal herrscht etwas Verwirrung, denn viele Länder wollten eigentlich nie so eine Art ‚UN-Botschafter‘ haben. In manchen Fällen wird aber der unabhängige Residierende Koordinator (Resident Coordinator – RC) jetzt als solcher wahrgenommen. Doch die meisten Länder möchten Unterstützung, und sie sind recht gut darin, herauszufinden, welche UN-Organisation sie dafür brauchen. Die Rolle des RC ist nicht einfach, denn diese Person ist nur dann relevant, wenn sie etwas Konkretes zu bieten hat. Insgesamt funktioniert es aber gut. Allerdings haben die Mitgliedstaaten die Erwartungen hinsichtlich des Finanzierungspakts, der die Reform begleiten sollte, nicht erfüllt. Das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen (United Nations Development System – UNDS) hat immer noch damit zu kämpfen, das RC-System als unabhängige Einrichtung zu finanzieren. Wir haben zwar einige Effizienzgewinne durch das neue System, aber es ist auch eine neue Ebene der Koordination hinzugekommen, die zusätzliche Kosten verursacht. Vorher hatten die RC beziehungsweise UNDP-Repräsentanten eine Doppelfunktion und waren manchmal für humanitäre Fragen zuständig.

SHH: Wie sieht das UNDP seine Rolle bei Wiederaufbauprozessen in fragilen Staaten wie in Afghanistan, in denen wir auch systematische Menschenrechtsverletzungen beobachten?

Wir leben in einer Welt, in der es immer mehr langwierige Krisen und Konflikte gibt, die auch Menschenrechtsverletzungen mit sich bringen. Der Großteil der Arbeit des UNDP findet im Rahmen dieser anhaltenden Krisensituationen statt. Als die Taliban im Jahr 2021 in Afghanistan die Macht übernahmen, stellten die Vereinten Nationen ihre Zusammenarbeit ein, weil wir die Taliban als Machthaber nicht anerkennen. Wir schlugen dann eine lokale Unterstützung in den Gemeinden vor, denn wir waren auch vor 20 Jahren schon hier, als das Taliban-Regime schon einmal herrschte. Jetzt haben wir einen Weg gefunden, um vor Ort in den Regionen mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um die Grundversorgung aufrechtzuerhalten und um durch genau diese Grundversorgung auch die lokale Wirtschaft und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken.

Und wenn die Gemeinden weiterhin ihre Freiräume, die Grundversorgung und Grundrechte – auch die der Frauen und Mädchen – lokal aushandeln sollen, dann sollte man wissen, dass das Diktat des Taliban-Regimes nicht im gesamten Land auf die gleiche Weise greift. Dies war beim letzten Mal der Fall, als die Taliban in bestimmten Teilen des Landes herrschten. Was kaum bekannt ist, ist, dass es in Afghanistan viele von Frauen geführte lokale Unternehmen und Kleinbetriebe gibt. Das können kleine Läden an der Ecke oder kleine Nähereien sein. Das UNDP betreut ein Netzwerk von rund 35.000 dieser kleinen, von Frauen geführten Unternehmen im ganzen Land. Wenn die internationale Gemeinschaft also den Frauen und Mädchen in einem Land wie Afghanistan beistehen möchte, dann soll sie den internationalen Druck durch Sanktionen aufrechterhalten, aber die Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht im Stich lassen oder sie von rein humanitärer Hilfe abhängig machen.

Blick in einen Sitzungssaal mit mehreren Bildschirmen, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigen.
Auf der 15. Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties – COP) im Dezember 2022 beschloss die Weltgemeinschaft, 30 Prozent der Landfläche und 30 Prozent der Meeresfläche bis zum Jahr 2030 unter Naturschutz zu stellen. (UN Photo/Evan Schneider)

PR: Kommen wir nun zu einem anderen Thema, der biologischen Vielfalt: Was bedeutet es für das UNDP, wenn in Zukunft 30 Prozent der Erde unter Schutz stehen und wie kann das UNDP dazu beitragen, den Konflikt zwischen Naturschutz und Entwicklung zu regeln, wenn wir unsere Artenvielfalt weltweit erhalten wollen?

Wir brauchen einen besser integrierten Ansatz, der Fokus auf das Thema Klima ist doch sehr stark. Das Klima ist natürlich ein sehr wichtiger Arbeitsbereich des UNDP, und während wir uns mit dem Klima befassen, arbeiten wir auch am Thema Energie.

Aber wir müssen uns auch mehr mit dem Schutz der Natur beschäftigen – das ist für uns ein zentrales Thema. Es entstehen auch gerade interessante neue Allianzen, zum Beispiel zwischen der neuen brasilianischen Regierung und den Regierungen weiterer Staaten, die unsere Gemeinschaftsgüter wie den Regenwald schützen wollen. Das ist sehr ermutigend, und wir fördern die Bestrebungen dieser Allianzen und unterstützten sie gerne dort, wo sie uns brauchen. Hier können wir auf jeden Fall eine Veränderung bei den wichtigsten Mitgliedstaaten beobachten. Dem UNDP ist klar, dass die Agenda für die biologische Vielfalt und umweltbezogene Lösungen auch für die wirtschaftliche Entwicklung sehr hilfreich sein können. Nicht zuletzt, um im Rahmen der Klima-Agenda Lösungen für eine Abmilderung oder zumindest für eine Anpassung an den Klimawandel zu finden. Wir müssen auf jeden Fall die gemeinsamen Vorteile und Synergien betrachten, damit wir sie umsetzen können. Viele der indigenen Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, schützen unsere biologische Vielfalt. Das UNDP unterstützt Initiativen, die sich für die Rechte von indigenen Gruppen einsetzen, und indigene Gruppen auf der ganzen Welt. Manchmal muss man den Wert der Natur tatsächlich auch benennen und beziffern, damit Entscheidungsträger wie Finanzministerinnen und -minister verstehen, dass der Verlust von biologischer Vielfalt auch wirtschaftlich zu enormen Verlusten führen kann, wie etwa in der Landwirtschaft und weiteren Bereichen. Mit unserem ‚Versprechen an die Natur‘ (‚Nature Pledge‘) fordern wir gerade, die Kosten für Tatenlosigkeit und falsche Entscheidungen zum jetzigen Zeitpunkt zu beziffern. Die Bedeutung der biologischen Vielfalt muss noch viel mehr in den Vordergrund rücken und deutlich stärker zusammen mit den Themen Klima und Energie in die Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik integriert werden.

SHH: Noch eine Frage zu dem Tanker vor der Küste Jemens: Könnten Sie bitte etwas näher auf diesen speziellen Vorfall und die geplante Bergung des Tankers durch das UNDP eingehen?

Es handelt sich um eine gemeinsame UN-Maßnahme unter der Leitung des UN-Resident Coordinator in Jemen, und des UNDP. Die 'FSO Safer' ist ein Supertanker im fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls, der bislang als Ölterminal genutzt wurde, aber aufgrund des Krieges in Jemen nicht gewartet wird. Wir wurden gebeten einzugreifen, weil es offenbar keine andere UN-Organisation und keinen Staat gab, der in der Lage oder bereit gewesen wäre, diese Aufgabe zu übernehmen und das damit verbundene Risiko einzugehen. Das größte Risiko hier besteht jedoch darin, nichts zu tun, denn dies würde früher oder später voraussichtlich zur weltweit schlimmsten Ölpest jemals führen. Wir hoffen wirklich, dass die Bergung funktioniert. Der Tanker könnte auseinanderbrechen oder explodieren, deshalb drücken wir jetzt ganz fest die Daumen, dass die Rettungsaktion gelingt. Wir haben eine Vereinbarung mit einem Bergungsunternehmen abgeschlossen. Das Schiff bewegt sich bereits in Richtung Küste.

Der Plan ist, den Tanker leer zu pumpen, der seit Jahrzehnten an der gleichen Stelle liegt. Wenn wir über die möglichen Schäden sprechen: 200 000 Menschen würden sofort ihren Lebensunterhalt verlieren, wenn es zu einem Ölaustritt käme. 17 Millionen Menschen in Jemen benötigen bereits Nahrungsmittelhilfe, das weiterführen dieser Hilfe wäre dann gefährdet. Die Kosten für die Beseitigung der Schäden werden auf mehr als 20 Milliarden US-Dollar geschätzt. Wenn das kein klarer Fall für Prävention ist, dann weiß ich es auch nicht.

Aus dem Englischen von Regina Eickhoff.

Das Interview fand am 9. Mai 2023 in Berlin statt. Die Fragen stellten Sophie Humer-Hager, Redakteurin der DGVN-Webseiten-Portale, und Dr. Patrick Rosenow, Leitender Redakteur der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN. Weitere Teile des Gesprächs finden Sie in Heft 3/2023 der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN.