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Ein Minimalkonsens für den Naturschutz

Die 15. Vertragsstaatenkonferenz (COP-15) des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD) in Montreal hat ein neues globales Rahmenwerk mit Naturschutzzielen bis zum Jahr 2030 verabschiedet. Der Weg dorthin war zu Fragen der Finanzierung und der globalen Gerechtigkeit äußerst konfliktträchtig. Das Ergebnis ist ein Minimalkonsens mit vielen offenen Fragen.

Blick in die vollbesetzte Halle der COP-15 in Montreal, Kanada, am 19. Dezember 2022. Foto: Flickr/UN Biodiversity

Auf diesen Moment haben Tausende Delegierte aus aller Welt im kanadischen Montreal gewartet. Es ist die entscheidende Nacht, in der kurz vor Ende der 15. Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties – COP) des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity – CBD) die neuen Naturschutzziele bis zum Jahr 2030 beschlossen werden sollen. Der Umweltminister Chinas, Huang Runqiu, leitet die Sitzung und erklärt am Podium die folgende Vorgehensweise: Es sollen sechs beschlussreife Dokumente verabschiedet werden, darunter das lang erwartete neue Biodiversitätsrahmenwerk. Erst jedes für sich, dann final als Gesamtpaket.

Bevor das Beschlussverfahren begonnen werden kann, gibt es noch eine Wortmeldung der Demo­kratischen Republik Kongo. Der Delegierte Daniel Mukubi Kikuni erklärt, es brauche ein ambitioniertes und gleichzeitig realistisches Übereinkommen. Die finanziellen Zusagen reicher Staaten für den internationalen Naturschutz seien nicht ausreichend, um die zu beschließenden Ziele überall umsetzen zu können. Kongo sei daher nicht in der Lage, dem Rahmenwerk in seiner derzeitigen Form zuzustimmen.

Mit einem Widerspruch in letzter Minute haben Beobachterinnen und Beobachter nicht gerechnet. Es herrscht sichtliche Verwirrung. Eine minutenlange Pause entsteht, in der sich der chinesische Umweltminister und das Sekretariat der UN-Biodiversitätskonvention intern beraten. Dann kehrt der Umweltminister an das Mikrofon zurück. Er verkündet, dass nun die sechs Dokumente in einem Gesamtpaket beschlossen werden. Ein kurzes: »Ich sehe keinen Einspruch« – und ohne zu warten kommt der finale Hammerschlag. Sofort bricht Jubel im Plenarsaal aus, denn nach intensiven Vorverhandlungen hat die Welt ein neues Rahmenwerk für den Schutz der Natur.

Gleich danach tritt wieder Verwirrung ein. War das Beschlussverfahren nicht anders angekündigt? Das ging alles zu schnell. Es gab doch einen Einspruch Kongos. Und allen Anwesenden ist bewusst, dass Beschlüsse im Rahmen des Übereinkommens immer nur im Konsens getroffen werden können. Jetzt melden sich verschiedene afrikanische Staaten zu Wort und drücken ihre Überraschung über das veränderte Verfahren und ihr Bedauern über den vorschnellen Beschluss aus. Der rechtliche Berater des Sekretariats bestätigt mit langsamer Stimme die Rechtmäßigkeit, da Kongo Vorbehalte, aber keinen formellen Einspruch geäußert habe.[1]

Abschließend sind die Hintergründe des Handelns Kongos sowie des chinesischen Umweltministers für Außenstehende nicht genau nachvollziehbar. Was die Geschehnisse der Nacht sicher zeigen, ist, dass der Ehrgeiz der internationalen Naturschutzziele sowie die Finanzzusagen entscheidende Streitpunkte in den Verhandlungen waren. Eine Frage, die viele Delegierte am Folgetag ebenfalls beschäftigte, ist, ob mit dem Vorbehalt eines Industriestaats genauso verfahren worden wäre. Der Vorfall der Beschlussnacht erreicht kaum die Außenwelt. Nach dem entscheidenden Hammerschlag gingen sofort vorgefertigte Nachrichtenbeiträge, Pressemitteilungen und Tweets in die Welt und verkündeten den erfolgreichen Beschluss der neuen internationalen Naturschutzziele.

 

Die Lage ist ernst

Mit der neuen Rahmenvereinbarung soll die lang­ersehnte Trendwende im Kampf gegen das Artensterben und die weltweite Naturzerstörung erreicht werden. Das ist auch dringend notwendig, denn der Verlust der Biodiversität ist eine der größten globalen Umweltkrisen unserer Zeit. Unter Biodiversität, oder auch biologischer Vielfalt, versteht man die Fülle des Lebens auf unserem Planeten. Konkret geht es um die Vielfalt an Ökosystemen, die Anzahl verschiedener Arten sowie die Variabilität an Genen innerhalb einer Art. Doch diese Vielfalt ist akut bedroht. Weltweit ist etwa eine Million der insgesamt rund acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.[2]2 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass das sechste Massensterben der Erdgeschichte damit bereits begonnen hat.

Gründe für den massiven Rückgang der Biodiversität sind die großflächige Naturzerstörung wie die Abholzung von Wäldern, eine zu intensive, nicht nachhaltige Land- und Forstwirtschaft sowie der Klimawandel. Zusätzlich tragen Umweltverschmutzung und die Verbreitung invasiver Tier- und Pflanzenarten zum Biodiversitätsverlust bei.

Der gravierende Verlust der Natur- und Artenvielfalt hat enorme Folgen für uns Menschen. Biodiversität ist unsere Lebensgrundlage. Das Weltwirtschaftsforum listet den Verlust der Biodiversität als eine der drei größten Risiken für die Weltwirtschaft.[3]

 

Der lange Weg zum neuen Übereinkommen

Auch auf UN-Ebene wurde früh erkannt, dass für den Schutz der Natur international zusammengearbeitet werden muss. Schließlich kennt die Natur keine politischen Grenzen. Darüber hinaus ist die Menschheit durch die Globalisierung und weltweite Lieferketten enger denn je miteinander verbunden. Doch der Weg nach Montreal war lang und schwierig. Eine kurze Rückschau soll helfen, die aktuellen Entwicklungen einzuordnen.

Die ersten internationalen Übereinkommen aus den 1970er Jahren widmeten sich ausschließlich einzelnen, ausgewählten Tierarten oder Lebensräumen. Dazu gehören zum Beispiel das Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben (Convention for the Conservation of Antarctic Seals – CCAS), das Übereinkommen über den Schutz von Feuchtgebieten, insbesondere als Lebensraum für Wasser- und Wattvögel (Convention on Wetlands of International Importance especially as Waterfowl Habitat; Ramsar-Konvention) und das Übereinkommen zur Erhaltung wandernder wild lebender Tierarten (Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals – CMS; Bonner Konvention).

Ein Meilenstein der internationalen Naturschutzpolitik war die Verabschiedung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt im Jahr 1992. Ihre drei übergeordneten Ziele umfassen den Schutz der Biodiversität sowie ihre nachhaltige Nutzung und den gerechten Ausgleich von Vorteilen, die sich aus der Nutzung genetischer Informationen ergeben. Damit ist das CBD nicht nur ein Naturschutzübereinkommen, sondern vielmehr ein Nachhaltigkeitsübereinkommen. Mit 196 Vertragsparteien hat das CBD eine fast universelle Mitgliedschaft, nur die USA und der Vatikan haben das Übereinkommen nicht ratifiziert.[4] Das CBD ist das wichtigste internationale Übereinkommen zum Schutz der Natur.

Um auf UN-Ebene Entscheidungen auf wissenschaftlichen Grundlagen treffen zu können, wurde im Jahr 2012 die Zwischenstaatliche Plattform Wissenschaft-Politik für Biodiversität und Ökosystemleistungen (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services – IPBES) ins Leben gerufen. Analog zur deutlich älteren Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) erstellt die IPBES wichtige Berichte zum aktuellen Zustand der Natur.

Bei der zehnten COP der CBD im Jahr 2010 in Japan wurden die sogenannten Aichi-Biodiversitätsziele verabschiedet. Auch damals wurde zuletzt bis tief in die Nacht verhandelt und man konnte die Verabschiedung von 20 Zielen zum Schutz der Natur bis zum Jahr 2020 feiern. Mit dem Auslaufen der Aichi-Biodiversitätsziele musste allerdings eine ernüchternde Bilanz gezogen werden: Es gab einige Fortschritte, aber auch Rückschritte.[5]

Umso dringender wurde die COP-15 der CBD, auf der ein neuer gemeinsamer, globaler Kompass für den Naturschutz beschlossen werden sollte. Dringend auch deswegen, weil die Konferenz, die eigentlich bereits im Jahr 2020 stattfinden sollte, wegen der COVID-19-Pandemie mehrmals verschoben wurde. Die Erwartungen im Vorfeld waren hoch: Angelehnt an das beschlossene Klimaübereinkommen von Paris im Jahr 2015 sollte ein ›Paris-Moment‹ für die Natur und eine Trendwende im Kampf gegen das Artensterben erreicht werden.

Der Ausgang der Verhandlungen war jedoch bis kurz vor Ende der Konferenz noch völlig unklar. Sogar ein mögliches Scheitern stand im Raum, da die unterschiedlichen Interessen der Staaten unüberbrückbar schienen. Daher war die Erleichterung über den Beschluss groß. Das Ergebnis wurde von vielen Seiten als historisch und deutlich positiver als erwartet beurteilt.

 

Was wurde beschlossen?

Der nun beschlossene Globale Rahmen für die biologische Vielfalt von Kunming-Montreal (Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework – GBF) enthält 23 umfangreiche Ziele, die auf unterschiedlichen Ebenen zum Schutz der Natur beitragen. Bis zum Jahr 2030 sollen sich beispielsweise 30 Prozent der degradierten Ökosysteme weltweit im Prozess der Wiederherstellung befinden. Der Einfluss invasiver Arten auf die Biodiversität soll minimiert und ihre Einschleppungsrate um mindestens 50 Prozent verringert werden. Ein weiteres Ziel legt fest, dass der Einfluss und die Risiken von Umweltverschmutzung bis zum Ende der Dekade auf ein für die Biodiversität nicht schädliches Niveau reduziert werden müssen. Insbesondere die Risiken von Pestiziden und sehr gefährlichen Chemikalien müssen um mindestens die Hälfte verringert werden. Außerdem soll der globale Fußabdruck unseres Konsums bis zum Jahr 2030 reduziert werden, etwa, indem die weltweite Lebensmittelverschwendung halbiert wird. In einem Zwischenschritt bis zum Jahr 2025 sollen alle naturschädlichen Subventionen identifiziert und bis zum Jahr 2030 um mindestens 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr verringert werden, und zwar beginnend mit den umweltschädlichsten Subventionen.[6]

 

Die großen Konfliktlinien

Das prominenteste Ziel im neuen Rahmenwerk ist das ›30x30‹-Ziel. Mit diesem hat die Weltgemeinschaft beschlossen, 30 Prozent der Landfläche und 30 Prozent der Meeresfläche bis zum Jahr 2030 unter Naturschutz zu stellen. Am ›30x30‹-Ziel lassen sich die großen Konfliktlinien in den Verhandlungen nachvollziehen. Es steht stellvertretend für die Ambition der Ziele, die viele Industriestaaten des Globalen Nordens gefordert hatten, einschließlich Deutschland und der Europäischen Union (EU).

Die besonders artenreichen Gebiete und schützenswerten Ökosysteme sind weltweit allerdings sehr ungleich verteilt. Sie befinden sich vor allem in tropischen und subtropischen Ländern des Globalen Südens. Genauso sind der Reichtum und die Wirtschafts- und Finanzkraft weltweit sehr ungleich verteilt. Ihre Zustimmung zum ›30x30‹-Ziel und zum Gesamtübereinkommen haben viele Staaten des Globalen Südens daher im Gegenzug von Finanzierungszusagen reicher Staaten abhängig gemacht.

Das prominenteste Ziel im neuen Rahmenwerk ist das ›30x30‹-Ziel.

Viele Entwicklungs- und Schwellenländer sehen in der großflächigen Ausweitung von Naturschutzgebieten, genauso wie in der Umsetzung anderer Naturschutzmaßnahmen, eine klare Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, die mit hohen Kosten verbunden ist. Sie weisen auf die historische Verantwortung durch koloniale Ausbeutung hin, dass Industriestaaten ihre Natur bereits vor langer Zeit zur eigenen Entwicklung zerstört haben und darauf, dass der Globale Norden nach wie vor den größten ökologischen Fußabdruck hat und damit am meisten zum weltweiten Artensterben beiträgt.

Das Dilemma des internationalen Naturschutzes wird am Beispiel der Demokratischen Republik Kongo besonders deutlich. Kongo ist eines der artenreichsten Länder und beheimatet den zweitgrößten Regenwald der Welt, große Gebiete davon weitgehend unberührt.[7] Das Land ist reich an Bodenschätzen wie Kobalt, Kupfer und anderen wertvollen Mineralien. Gleichzeitig ist Kongo eines der ärmsten Länder der Welt. Etwa 63 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.[8] Das Land leidet unter jahrelanger Korruption und bewaffneten Konflikten; der Index der menschlichen Entwicklung stuft Kongo auf Rang 176 von 191 ein.[9] Welche ökonomische und politische Bedeutung die Naturschätze haben, zeigt die Ankündigung der Versteigerung von Explorationsrechten für Öl und Gas im Jahr 2022: Dies betrifft mit rund 240 000 Quadratkilometern eine Fläche von der Größe des Vereinigten Königreichs.[10]

Die Vertragsstaaten haben sich nach langen Diskussionen darauf geeinigt, die internationale Biodiversitätsfinanzierung bis zum Jahr 2030 auf mindestens 200 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Hiervon sollen bis zum Jahr 2025 mindestens 20 Milliarden und bis zum Jahr 2030 mindestens 30 Milliarden US-Dollar von Industriestaaten an Entwicklungs- und Schwellenländer fließen. Auch wenn es sich dabei um wichtige Zusagen handelt, ist es sinnvoll, die Summen ins Verhältnis zu setzen: Die Bundesrepublik Deutschland hat beispielsweise im Jahr 2022 drei Entlastungspakete in Höhe von 100 Milliarden Euro beschlossen, um die finanziellen Folgen der gestiegenen Energiekosten für die Bevölkerung und die Wirtschaft zu verringern.[11] Bei den nun vereinbarten 30 Milliarden US-Dollar handelt es sich um eine Summe, die alle Industrienationen gemeinsam aufbringen sollen und die unter zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern aufgeteilt wird.

Auch Vertreterinnen und Vertreter indigener Völker haben sich in Montreal in die Verhandlungen des ›30x30‹-Ziels eingebracht. Etwa 80 Prozent der weltweiten Biodiversität befinden sich auf den Gebieten indigener Völker.[12] Dass das kein Zufall ist, zeigen zahlreiche Studien: Indigene Völker nutzen ihre Gebiete besonders nachhaltig und tragen damit maßgeblich zum Erhalt der Natur und Artenvielfalt bei.[13] Vertreterinnen und Vertreter indigener Völker warnten daher eindringlich davor, dass die Ausweisung neuer Schutzgebiete nicht als Vorwand genutzt werden darf, um die indigene Bevölkerung gewaltsam von ihrem Land zu vertreiben. Es ist daher ein Verhandlungserfolg, dass dieses Ziel die Rechte indigener Völker und ihre Landrechte elementar einschließt.

 

Vieles bleibt unkonkret

Gleichzeitig gibt es andere Aspekte des neuen Übereinkommens, die weniger positiv zu bewerten sind. Keine Einigung etwa wurde bei der Berichtspflicht für Unternehmen erzielt, mit der diese ihre Auswirkungen auf die Natur auswerten und offenlegen müssen. Auch der Vorschlag, dass große Unternehmen ihren negativen Einfluss auf die biologische Vielfalt um die Hälfte reduzieren sollen, konnte nicht in das Ziel integriert werden. Kritisch ist zudem, dass ›nachhaltige Intensivierung‹ nicht weiter definiert ist, als biodiversitätsfreundliche Form der Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei eingestuft wird und ›substanziell erhöht‹ werden soll.

Ein Blick in die genaue Formulierung zahlreicher Ziele zeigt außerdem, dass vielen ein quantitatives Element fehlt oder sie nicht spezifisch festlegen, was genau bis zum Jahr 2030 erreicht werden soll. Hier wollte man eigentlich aus den verfehlten Aichi-Zielen lernen und erreichen, dass die neuen Ziele konkret genug und vor allem auch messbar sind. Im Gegensatz zu den Aichi-Zielen, wo erst nach ihrem Beschluss begonnen wurde, über mögliche Indikatoren zu verhandeln, wurde beim GBF ein Rahmen an Indikatoren mitverhandelt. Das ist ein großer Fortschritt. Allerdings wurden für sieben der 23 Ziele keine weltweit verpflichtenden Indikatoren festgelegt, sodass hier der Fortschritt auf globaler Ebene nicht nachverfolgt werden kann.[14]

 

Eine Frage des Maßstabs

Wie sind die Ergebnisse in Montreal also zu bewerten? Das hängt stark davon ab, woran man die neuen Naturschutzziele misst. Ruft man sich in Erinnerung, dass bis zuletzt ein Scheitern im Raum stand, erscheinen die Ziele beinahe wie ein Wunder. Misst man sie an der Tatsache, dass es sich um den Minimalkonsens handelt, der zwischen 196 Vertragsparteien angesichts einer schwierigen geopolitischen Lage und divergierenden nationalstaatlichen Interessen gefunden werden konnte, sind die Ziele ein großer Erfolg. Vergleicht man das GBF mit den Aichi-Zielen, kommt man zu einem gemischten Ergebnis. Wenn es allerdings darum geht, was notwendig wäre, um den weltweiten Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen und damit die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zu erhalten, sind die Ziele völlig unzureichend.

 

Wie geht es weiter?

Entscheidend für den Erfolg der Ziele ist ihre Umsetzung. Damit steht die eigentliche Arbeit noch bevor. Der erste Schritt in Deutschland, genauso wie in anderen Staaten, wird die Aktualisierung der jeweiligen nationalen Biodiversitätsstrategie sein. Dabei handelt es sich um den nationalen Umsetzungsmechanismus der CBD, in dem die Vertragsstaaten ausarbeiten müssen, wie sie die internationalen Ziele erreichen werden.

In der Umsetzung des ›30x30‹-Ziels wird neben der Ausweisung geeigneter Naturschutzgebiete entscheidend sein, dass diese auch effektiv geschützt sind und nicht nur auf dem Papier existieren. Genauso gilt es, die Rechte indigener Völker zu respektieren. Für die erfolgreiche Umsetzung werden sowohl national als auch international weitere finanzielle Mittel und verbindliche Zusagen benötigt. Beides sind wichtige Erfahrungen der verfehlten Aichi-Biodiversitätsziele, aus denen nun die entsprechenden Lehren gezogen werden müssen.

Mindestens genauso wichtig wie eine sichere Naturschutzfinanzierung ist die schnelle Eliminierung naturschädlicher Subventionen, wie ein großer Teil der europäischen Agrarförderung oder die Mehrwertsteuerbegünstigung für Fleisch in Deutschland. Aktuell geht man in Deutschland von etwa 65 Milliarden Euro für umweltschädliche Subventionen aus, weltweit sogar von rund 1,8 Billionen US-Dollar.[15] Die Politik wird den Biodiversitätsverlust nur angehen können, wenn wir als Gesellschaft aufhören, viele Milliarden in Maßnahmen zu investieren, die die Natur systematisch zerstören, anstatt in solche Aktivitäten, die posi­tive Auswirkungen haben.

Dort, wo das internationale Rahmenwerk keine verpflichtenden Indikatoren vorgibt, sollte zumindest auf nationaler Ebene nachgebessert werden. Insbesondere Deutschland und die EU haben sich in den Verhandlungen für ambitionierte Naturschutzziele eingesetzt – es kann also erwartet werden, dass hier auch mehr angestrebt wird, als in Montreal vereinbart werden konnte.

Der Ausgang der Verhandlungen war jedoch bis kurz vor Ende der Konferenz noch völlig unklar.

Zukunft weiterdenken

»Der Beschluss dieses Rahmenwerks und dieser Gesamtvereinbarung ist ein großer Schritt vorwärts für die Welt. Aber es ist nicht der letzte Schritt.«[16] Die Worte des namibischen Delegierten in seiner spontanen Rede bringen es auf den Punkt. Um langfristig die Artenvielfalt und unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, müssen wir weitergehen. Wie von der IPBES wissenschaftlich aufgezeigt, benötigen wir ganzheitlichere Lösungen.

Der Bericht des Club of Rome ›Die Grenzen des Wachstums‹ hat schon im Jahr 1972 festgehalten, dass unbegrenztes Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen nicht möglich ist. Auch aktuelle Studien zeigen, dass ein Schutz der Biodiversität langfristig nicht mit einer endlos wachsenden Weltwirtschaft vereinbar scheint.[17] Es gibt bereits zahlreiche Vorschläge, mit denen wir konkret beginnen können – dazu gehören Ansätze aus der Kreislaufwirtschaft, des Post-Wachstums und der Gemeinwohlökonomie. Ein vielversprechender Ansatz ist auch die Auslotung von Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Derzeit dient das BIP als alleiniger Maßstab der wirtschaftlichen Leistung und des Fortschritts eines Staates. Es gibt aber keine Auskunft über sozialen Fortschritt, Gesundheit oder den ökologischen Zustand in einem Land, nicht einmal über alle relevanten Aspekte der wirtschaftlichen Leistung eines Staates. Genauso wenig kann das BIP aufzeigen, wie zufrieden wir als Bürger eines Landes mit unserem Leben sind.

Wir brauchen darum einen Wandel in der Art und Weise, wie wir wirtschaften und wie wir Fortschritt verstehen. Dazu gehören auch fundamentale Fragen der Gerechtigkeit, unseres Umgangs miteinander und eine Reflexion unserer Werte.

Biologische Vielfalt ist für unser Leben essenziell wichtig. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass wir gemeinsam zu großen gesellschaftlichen Veränderungen und entschlossenem Handeln fähig sind, wenn wir erkennen, dass unsere Gesundheit und unser Überleben davon abhängen. Um nichts weniger geht es auch bei der Biodiversitätskrise.

 

[1] Secretariat of the Convention on Biological Diversity, Plenary: Adoption of Decisions (TBC), 18.12.2022, www.youtube.com/watch?v=UNZ4Y0nQh-8

[2] Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, Bonn 2019, zenodo.org/record/6417333

[3] World Economic Forum, The Global Risks Report 2022: Insight Report, 17. Aufl., Genf 2022, www.weforum.org/reports/global-risks-report-2022/

[4] Convention on Biological Diversity, 5.6.1992, UNTS 1760 (S. 79), ratifiziert durch 196 Vertragsparteien (Stand 31.1.2023), in Kraft getreten am 29.12.1993, treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXVII-8&chapter=27

[5] Secretariat of the Convention on Biological Diversity, Global Biodiversity Outlook 5, Montreal 2020, www.cbd.int/gbo5

[6] CBD/COP/15/L.25, Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, Montreal 2022; Draft Decision Submitted by the President.

[7] World Bank, The World Bank in DRC, www.worldbank.org/en/country/drc/overview

[8] World Bank, Poverty Headcount Ratio at National Poverty Lines (% of Population) – Congo, Dem. Rep., data.worldbank.org/indicator/SI.POV.NAHC

[9] United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2021/2022: Uncertain Times, Unsettled Lives: Shaping our Future in a Transforming World, New York 2022, www.un-ilibrary.org/content/books/9789210016407

[10] Bart Crezee/Simon Lewis, Congo Peat Swamps Store Three Years of Global Carbon Emissions – Imminent Oil Drilling Could Release It, The Conversation, 21.7.2022, theconversation.com/congo-peat-swamps-store-three-years-of-global-carbon-emissions-imminent-oil-drilling-could-release-it-187101

[11] Bundesministerium der Finanzen, Schnelle und spürbare Entlastungen in Milliardenhöhe, www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Entlastungen/schnelle-spuerbare-entlastungen.html

[12] Eugenia Recio/Dina Hestad, Indigenous Peoples: Defending an Environment for All: Policy Brief #36, Still only one Earth: Lessons from 50 years of UN Sustainable Development Policy, April 2022; siehe dazu auch den Beitrag von Margret Carstens in diesem Heft.

[13] Stephen T. Garnett et al., A Spatial Overview of the Global Importance of Indigenous Lands for Conservation, Nature Sustainability 1, Nr. 7, 2018, doi.org/10.1038/s41893-018-0100-6

[14] CBD/COP/15/L.26, Monitoring Framework for the Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, Montreal 2022; Draft Decision Submitted by the President.

[15] Wolfgang Bretschneider/Andreas Burger, Umweltschädliche Subventionen in Deutschland: Aktualisierte Ausgabe 2021, Texte 143/2021, Dessau-Roßlau 2021; Doug Koplow/Ronald Steenblik, Protecting Nature by Reforming Environmentally Harmful Subsidies: The Role of Business, Cambridge, MA 2022.

[16] Secretariat of the Convention on Biological Diversity, Plenary, a.a.O. (Anm. 1).

[17] Lago Otero et al., Biodiversity Policy Beyond Economic Growth, Conservation Letters 13, 4/2020, doi.org/10.1111/conl.12713

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