Ein »tektonisches Beben« hat mit dem Ende des Kalten Krieges die Welt erfaßt; »der Boden unter unseren Füßen (ist) noch nicht zur Ruhe gekommen«. Zu den qualitativen Veränderungen gehört, wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen zu Jahresbeginn festgehalten hat, die Tatsache, daß »viele Konflikte heute eher im Inneren von Staaten als zwischen Staaten ausgetragen (werden). Mit dem Ende des Kalten Krieges fielen die Schranken, die in der ehemaligen Sowjetunion und in anderen Ländern den Ausbruch von Konflikten verhindert hatten. Als Folge davon kam es im Inneren der seit kurzem unabhängigen Staaten zu einer ganzen Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen, die oft religiösen oder ethnischen Charakter hatten und häufig von außergewöhnlicher Gewalttätigkeit und Grausamkeit geprägt waren«. Die Staatenorganisation Vereinte Nationen tut sich schwer mit dem, was sich im Inneren gefährdeter oder zerfallender Staaten abspielt. Die Forderung nach Selbstbestimmung wird von Akteuren artikuliert, die neu auf den Plan getreten sind - nicht neu freilich sind die Frage nach dem Träger des Selbstbestimmungsrechts, dessen Spannungsverhältnis zum Souveränitätsprinzip und auch die Schwierigkeit, ›Volk‹ und ›Nation‹ zu definieren. Die Thematik ist in dieser Zeitschrift bisher vornehmlich in der Betrachtungsweise des Völkerrechts und der Menschenrechte behandelt worden; Völker ohne Staat fallen dabei meist unter die Kategorie ›Minderheiten‹. Aus anderer - ethnosoziologischer - Perspektive nähert sich der Autor des nachstehenden Beitrags dem Gegenstand, legt die Defizite des in der Staatengemeinschaft vorherrschenden Ansatzes beim Umgang mit der neuen Konfliktlage dar, unterscheidet die Ethnizität als ›Wir-Gefühl‹ selbstorganisierter Gruppen vom Nationalismus und plädiert entgegen gängigen Rezepten für die Einräumung eines Rechtes zur Sezession — unter klar definierten Bedingungen und unter Gewährleistung der Menschenrechte für dabei möglicherweise neu entstehende Minderheiten.