Menü

Von ›UN75‹ zum Zukunftsgipfel

Im September 2024 werden sich 193 UN-Mitgliedstaaten auf einen Zukunftspakt einigen – ein Meilenstein in einem Prozess, der vor vier Jahren anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen begann. Im vorliegenden Beitrag wird die Entwicklung dieser multilateralen Reformbemühungen in einem schwierigen politischen Umfeld beschrieben.

Ko-Fazilitatoren des Zukunftsgipfels mit Generalsekretär António Guterres. UN Photo: Evan Schneider
Ko-Fazilitatoren des Zukunftsgipfels mit Generalsekretär António Guterres. UN Photo/Evan Schneider

Der 75. Jahrestag der Vereinten Nationen im Jahr 2020 fiel in eine Zeit großer Erschütterungen. Die COVID-19-Pandemie kostete drei Millionen Menschen das Leben, brachte die Weltwirtschaft zum Erliegen und führte für Millionen Menschen zu extremer Armut.[1] Die globalen Entwicklungserfolge, die bereits stark gefährdet waren, verringerten sich erheblich. Durch umfangreiche Schulschließungen erreichten 101 Millionen Kinder nicht einmal das Mindestniveau der Lesekompetenz, und die Kluft zwischen den Geschlechtern wurde noch größer.[2] Die bisherigen Gesamtfortschritte bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) drohten, wieder verloren zu gehen.[3]

Multilateralismus vor einem komplexen Hintergrund 

Vor dem Hintergrund sich überschneidender Krisen und eines weltweit schwindenden Vertrauens in gesellschaftliche Institutionen rief UN-Generalsekretär António Guterres im Jahr 2020 zu einer Neubewertung der Vereinten Nationen auf. Der 75. Jahrestag der Organisation böte eine einzigartige Gelegenheit, »den Menschen, denen sie dient, direkt zuzuhören«[4]. Dementsprechend starteten die UN im Januar 2020 ›globale Anhörungen‹ – die umfassendsten und vielfältigsten demokratischen Konsultationsbemühungen ihrer Art. Die Konsulta­tionen, an denen sich mehr als 1,5 Millionen Menschen aus 195 Ländern beteiligten, führten zu einer Bündelung von Ideen, um – mit dem Anspruch des Generalsekretärs – »die Zukunft zu gestalten, die wir wollen, und die Vereinten Nationen zu schaffen, die wir brauchen«[5].

Mit dieser Initiative wurde ein mehrjähriger Prozess in Gang gesetzt, der im September 2024 in einem einmaligen Zukunftsgipfel (Summit of the Future) seinen Höhepunkt finden wird. Im Laufe der vergangenen vier Jahre – 2020 bis 2024 – hat sich angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts das Verständnis über die Rolle der Vereinten Nationen im multilateralen System weiterentwickelt.

Die ›UN75‹-Erklärung und ›Unsere gemeinsame Agenda‹ 

Die globalen Anhörungen der UN waren der erste Schritt in einem umfassenderen Transformationsprozess. Sie zielten darauf ab, die »Hoffnungen und Ängste der Menschen im Hinblick auf die Zukunft« besser zu verstehen und gipfelten im Januar 2021 in der Veröffentlichung des Abschlussberichts ›UN75 Global Listening Exercise‹. In dem Bericht wurden globale Perspektiven zur wahrgenommenen Rolle der Vereinten Nationen bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen hervorgehoben, mit dem Ziel, den politisch Verantwortlichen bei ihren Entscheidungen zur Einleitung eines transformativen Wandels eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben.[6]

Die UN-Mitgliedstaaten haben eigene Überlegungen darüber angestellt, inwieweit die UN in der Lage sind, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, und dazu eine Erklärung zum 75. Jahrestag des Bestehens der UN am 21. September 2020 verabschiedet (UN75-Erklärung).[7] Diese unter der Leitung von Katar und Schweden verhandelte Erklärung benennt zwölf Schwerpunktbereiche für die UN bis zu ihrem 100-jährigen Bestehen im Jahr 2045 (siehe Abbildung 1, S. 149). Die Mitgliedstaaten nahmen die Erklärung zum Anlass, den Generalsekretär zu beauftragen, einen Plan vorzulegen, wie diese vorrangigen Ziele bis zum Jahr 2045 erreicht werden können. Der Generalsekretär antwortete ein Jahr später mit dem Bericht ›Unsere gemeinsame Agenda‹ (Our Common Agenda – OCA).[8]

Der im September 2021 veröffentlichte OCA-Bericht enthielt rund 90 Empfehlungen, die sich auf vier Säulen verteilen und auf die Umsetzung der zwölf in der UN75-Erklärung genannten Schwerpunktbereiche abzielen. Außerdem wurde versucht, den SDGs neuen Auftrieb zu geben. Ursprünglich war die OCA in der UN75-Erklärung als übergreifende Strategie vorgesehen. Später entwickelte sie sich zu einer Reihe von Empfehlungen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Zukunftsgipfels und anderer zwischenstaatlicher Prozesse in ihre Überlegungen einbeziehen sollten.

Die Forderung nach einem Zukunftsgipfel und sein konkretes Ergebnis – ein Zukunftspakt (Pact for the Future) – waren zweifellos der wichtigste Vorschlag in der OCA. Einige wichtige Anregungen in dem Bericht standen jedoch besonders im Fokus und prägten die Agenda, die sich im Laufe der nächsten drei Jahre entwickeln sollte. Die wichtigsten normativen Vorschläge der OCA bezogen sich auf die Förderung der Generationengerechtigkeit, die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsvertrags, die Betonung der Notwendigkeit eines vernetzten und inklusiven Multilateralismus, die Ausrichtung auf ein langfristiges generationenübergreifendes Denken und – wenngleich umstritten – die Governance der globalen Gemeinschaftsgüter, etwa der natürlichen Ressourcen, sowie der globalen öffentlichen Güter, beispielsweise eine saubere Umwelt.

In Bezug auf Letzteres wurde in der OCA die Einrichtung eines Hochrangigen Beratungsgremiums (High-Level Advisory Board – HLAB) zur Verbesserung der Governance für globale öffentliche Güter vorgeschlagen. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf erheblichen Widerstand seitens einiger Staaten der Gruppe der 77 (G77), die Bedenken hinsichtlich der umstrittenen Definition und des Governance-Mandats für globale Gemeinschaftsgüter und öffentliche Güter äußerten. Dies führte dazu, dass das HLAB in das Hochrangige Beratungsgremium für effektiven Multilateralismus umbenannt wurde. Trotz alledem haben sich die Themen Zukunftsbewusstsein und kollektive Governance wie ein roter Faden durch den Prozess der UN75-Erklärung im Jahr 2020 bis hin zum Zukunftspakt im Jahr 2024 gezogen. 

Zur Halbzeit der Agenda 2030 schlug der Generalsekretär zunächst einen parallelen Zukunftsgipfel vor.

Auf institutioneller Ebene hat die OCA zu einigen kleineren, aber dennoch bedeutenden Maßnahmen geführt: Unter der Verhandlungsführung von Ägypten und Guyana wurde ein Büro der Vereinten Nationen für Jugendfragen (UN Youth Office) eingerichtet sowie als dessen Leitung der jüngste Beigeordnete Generalsekretär in der UN-Geschichte ernannt. Dies ist ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die Institutionalisierung der Rolle junger Menschen bei den UN.[9] Darüber hinaus wurde in Helsinki ein UN-Zukunftslabor (UN Futures Lab) eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, »die Entwicklung von Prognosekapazitäten zu unterstützen und eine nachhaltige Fokussierung auf langfristige Visionen in der Politikgestaltung und Programmplanung zu fördern.«[10] Bei der Neudefinition von Wachstum über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinaus wurden Fortschritte erzielt,[11] und der HLAB-Bericht ›Ein Durchbruch für die Menschen und den Planeten‹ schlug sechs neue Ansätze für den Multilateralismus vor, die in der Folge den Ton für die Verhandlungen über das Ergebnisdokument des Zukunftspakts und dessen Anhänge vorgaben (siehe Abbildung 1). Sie flossen auch in die elf Kurzdossiers ein, die vom Büro des Generalsekretärs zur Unterstützung der Verhandlungen herausgegeben wurden.[12]

Der OCA-Prozess wurde mehrfach kritisiert, unter anderem dafür, dass er im Hinblick auf die Reform des Multilateralismus eine westliche Sichtweise einnähme oder dass er die Aufmerksamkeit von bestehenden Reformagenden ablenke, die erst noch umgesetzt werden müssten. Diese Überlegungen, ihre Vorzüge und ihre Kritik wurden breit diskutiert, nicht zuletzt auch in der Generalversammlung. Auf die Implikationen einiger dieser Debatten wird in der nachfolgenden Theorie des Wandels näher eingegangen.

Eine Chronologie der Gipfeltreffen 

Die OCA-Empfehlungen wurden durch eine Reihe konsensfördernder Gespräche zu Schlüsselthemen ergänzt. Dies bot Gelegenheit für die Entwicklung zusätzlicher zwischenstaatlicher Prozesse zu verschiedenen Themen sowie Anlässe, die Reform und die damit verbundenen Debatten voranzutreiben.

Der erste von der OCA empfohlene zwischenstaatliche Gipfel war das Gipfeltreffen zur Bildungstransformation (Summit on Transforming Education) im September 2022. Der Gipfel wurde mit der Absicht einberufen, das Thema Bildung als Reaktion auf die durch die COVID-19-Pandemie noch verschärfte Bildungskrise ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Er führte zur Gründung verschiedener Initiativen. Das Gipfeltreffen, an dem über 150 Bildungsministerinnen und -minister oder Stellvertreter teilnahmen, führte zur Gründung einer ›grünen Bildungspartnerschaft‹ für mehr Klimaschutz und einer globalen Initiative zum öffentlichen digitalen Lernen.[13]

Im Anschluss an das Gipfeltreffen wurde das Jahr 2023 zunächst als Jahr der ›Zwillingsgipfel‹ geplant, nämlich des SDG-Gipfels und des Zukunftsgipfels. Zur Halbzeit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) schlug der Generalsekretär einen parallelen Zukunftsgipfel vor, »um einen neuen globalen Konsens darüber zu schaffen, wie unsere Zukunft aussehen soll und was wir heute tun können, um sie zu sichern«[14]. Diese Empfehlung wurde jedoch von den Mitgliedstaaten nicht positiv aufgenommen, da viele von ihnen der Meinung waren, dass ihre begrenzten Ressourcen besser für den SDG-Gipfel eingesetzt werden sollten. Daher wurde der Zukunftsgipfel auf September 2024 verschoben.[15]

Die zwischenstaatlichen Verhandlungen für den Zukunftsgipfel wurden nach dem SDG-Gipfel im letzten Quartal 2023 mit Hochdruck vorangetrieben. Seit dieser Zeit laufen die Verhandlungen über den Zukunftspakt, den als Anhang beigefügten Globalen Digitalpakt (Global Digital Compact) und die Erklärung für die künftigen Generationen (Declaration on Future Generations).[16] In der unter Leitung von Deutschland und Namibia verhandelten zweiten revidierten Fassung des Zukunftspakts (Rev. 2) werden die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der SDGs bekräftigt und Empfehlungen formuliert für: a) nachhaltige Entwicklung und Entwicklungsfinanzierung, b) Frieden und internationale Sicherheit, c) Wissenschaft, Technologie, Innovation und digi­tale Zusammenarbeit, d) Jugend und künftige Generationen und e) die Transformation der Global Governance.[17]

Auch in der unter der Leitung von Jamaika und den Niederlanden verhandelten Rev. 2 der Erklärung für die künftigen Generationen werden Maßnahmen zur Wahrung der Bedürfnisse und Interessen künftiger Generationen bekräftigt. Die von Schweden und Sambia koordinierte Rev. 2 des Globalen Digitalpakts enthält Verpflichtungen zur Überwindung der digitalen Kluft, zur Förderung der Integration in die globale digitale Wirtschaft, zum Schutz der Menschenrechte, zur Gewährleistung einer verantwortungsvollen Datenverarbeitung und zur Kontrolle und Steuerung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI).[18]

Mehrere Ko-Fazilitatoren organisierten zahl-reiche Austausche mit nichtstaatlichen Akteuren.

Während die Verhandlungen für die oben genannten Prozesse grundsätzlich abgeschlossen sind, haben mehrere Ko-Fazilitatoren interaktive Dialoge, Bürgerversammlungen, informelle Konsultationen, Workshops und andere Formen der Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren wie dem Privatsektor, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Technikbranche organisiert. Im Rahmen der Konsultationen wurden sowohl schriftliche als auch mündliche Beiträge aus globaler Perspektive erbeten. So gingen beispielsweise für den Globalen Digitalpakt über 6000 Stellungnahmen ein.[19] Im Mai 2024 organisierten die Vereinten Nationen eine große zivilgesellschaftliche Konferenz in Nairobi, Kenia. Ziel war es, weitere Konsultationen zu diesen Ideen anzuregen und Koalitionen zu bilden, deren Erkenntnisse in den Gipfel einfließen sollten.[20] Der Zukunftsgipfel ist zwar in erster Linie ein zwischenstaatlicher Prozess und der Zukunftspakt wird die Interessen der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit widerspiegeln. Dennoch sind vernetzte und integrative Prozesse sowohl für die Ausarbeitung eines fundierten Zukunftspakts als auch für die Umsetzung dieses Dokuments von entscheidender Bedeutung. Die Einbeziehung von Interessengruppen ist folglich ein wichtiger Aspekt für die nächsten Schritte.

Als letztes Gipfeltreffen im Kontext der OCA wird im Jahr 2025 der Weltsozialgipfel (World Social Summit – WSS) stattfinden, bei dem ein erneutes Bekenntnis zur Kopenhagener Erklärung über soziale Entwicklung und zum Aktionsplan aus dem Jahr 1995 zu erwarten ist.

Theorie des Wandels: Die wichtigsten Debatten des Prozesses

Der vorliegende Beitrag beschränkt sich zwar darauf, die Entwicklung der UN75-Erklärung bis zum Zukunftsgipfel nachzuvollziehen. Es lohnt sich jedoch auch zu untersuchen, wie sich die Theorie des Wandels selbst entwickelt hat. Eine solche Betrachtung kann dazu beitragen, Fallstricke und Wendepunkte zu identifizieren und gleichzeitig aufzuzeigen, welche Schwerpunkte auf dem vor uns liegenden Weg gesetzt werden sollten, um ein produktives Ergebnis zu erzielen.

Erstens: Worin besteht der rote Faden bei den wichtigsten Themen? Abbildung 1 vergleicht, wie der ›Reformkuchen‹ in den vergangenen vier Jahren und seit dem Jahr 2015 mit Blick auf die SDGs aufgeteilt worden ist. Einige Themen standen zunächst im Vordergrund und verschwanden dann wieder. Ein roter Faden ist jedoch die Wiederverwendung der Formulierung »wir werden« in der Rev. 2 des Zukunftspakts, wie bereits in der UN75-Erklärung. Auch andere zentrale Themen, darunter die Finanzarchitektur, sind in Abbildung 1 dargestellt. Letztere dient somit als natürlicher Gradmesser für den Erfolg im Hinblick auf die Ergebnisse des Zukunftsgipfels und bietet einen Ausgangspunkt für die weitere Arbeit.

Zweitens: Welche Debatten haben das Denken in den vergangenen vier Jahren verändert oder präzisiert? In der UN75-Erklärung wurden zwölf zentrale Prioritäten für Reformen bis zum Jahr 2045 genannt. Die OCA sollte dementsprechend eine ganzheitliche und übergreifende Strategie zur Umsetzung dieser Prioritäten innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens liefern. Der Generalsekretär bekräftigte jedoch, dass die OCA dazu dienen sollte, die SDGs voranzutreiben, und zwar mit Blick auf die Agenda 2030 und nicht auf das Jahr 2045. In der abwechselnden Fokussierung auf die Agenda 2030 und 2045 spiegelt sich eine ständige Spannung innerhalb des Prozesses wider.

Der UN75-Prozess zielte ursprünglich darauf ab, die Handlungsfähigkeit der UN zur Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stärken, indem der Schwerpunkt vorwiegend auf Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz des Systems von innen heraus gelegt wurde. Im Gegensatz dazu wurde mit der OCA eine breitere Reformagenda für die multilaterale Ordnung vor­gelegt, in der auf die Bedeutung der Reform von Institutionen wie der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) und der Gruppe der 20 (G20) hingewiesen wurde, um die in der UN75-Erklärung festgelegten Prioritäten umzusetzen. Diese auf externe Faktoren ausgerichtete Reformagenda, die sich in vielen der elf OCA-Kurzdossiers widerspiegelt, hat jedoch zu Verwirrung geführt, wem gegenüber Rechenschaft für die Umsetzung von Reformen abgelegt werden muss.

Im Gegensatz zur Agenda für den Frieden im Jahr 1992 beispielsweise, die ein klares, auf die UN bezogenes Mandat beinhaltete, bietet die Neue Agenda für den Frieden eine Reihe von Optionen und Maßnahmen zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit, ohne dass die UN im Mittelpunkt stehen. Diese Uneindeutigkeit wirft die Frage auf, ob der Generalsekretär ein weiteres Dokument herausgeben wird, das einen Rechenschaftsmechanismus enthält, oder ob die Mitgliedstaaten den Spielraum haben werden, Elemente der Agenda nach eigenem Gutdünken zu übernehmen. Dies könnte möglicherweise zu einem Konzept des kleinsten gemeinsamen Nenners für unser Verständnis von Frieden im aktuellen Kontext der globalen Governance führen.

In der abwechselnden Fokussierung auf die Agenda 2030 und das Jahr 2045 spiegelt sich eine Spannung innerhalb des Prozesses wider.

Ein weiterer Punkt, der für Irritationen sorgte, war die Befürchtung, dass die Reformagenda der UN75 sowie des Zukunftsgipfels die Aufmerksamkeit von der kollektiven Verantwortung für die SDGs ablenken könnte. Die Agenda 2030 ist zwar nach wie vor eine starke treibende Kraft für den Multilateralismus, aber der bisherige Umsetzungsprozess hat die Unzulänglichkeiten und Ungleichheiten unserer derzeitigen Systeme deutlich gemacht.[21] Eine Verbesserung des multilateralen Instrumentariums, zum Beispiel durch eine Umstrukturierung des Finanzsystems, würde nicht nur die Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 beschleunigen, sondern auch die Widerstandsfähigkeit des Systems gegen Rückschritte stärken.

Bei der Beurteilung der im Zukunftspakt skizzierten Maßnahmen muss klar unterschieden werden, welche unter das Mandat des Generalsekretärs fallen, welche eine zwischenstaatliche Einigung erfordern, aber auf die Reform der Vereinten Nationen ausgerichtet sind, und welche Vorschläge in anderen Governance-Foren behandelt werden müssen. Dies wiederum wirft die entscheidende Frage auf, wer für die Umsetzung der im September 2024 in New York getroffenen Vereinbarungen in den verschiedenen Governance-Systemen verantwortlich ist, in denen sie sich auswirken würden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich beim Übergang von der Theorie zur Umsetzung die dringende Frage, ob dieser Prozess das erreichen wird, was vor vier Jahren anvisiert wurde, oder ob sich die Erwartungen an ein realistisches Ergebnis geändert haben. Einerseits werden das geopolitische Klima, die Spannungen zwischen den Großmächten und die hohe Wahlfluktuation die Länder wahrscheinlich dazu veranlassen, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Dies zeigte sich im ersten Entwurf des Zukunftspakts vom Januar 2024, in dem 39 Mal der Begriff »bekräftigen« verwendet wurde, was auf einen Mangel an zukunftsorientierten Ambitionen hindeutet. 

Andererseits ist dies ein entscheidender Moment für die UN – eine letzte Chance zu zeigen, dass der Multilateralismus reformiert werden kann, um den Herausforderungen und Chancen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden und bevor kritische Kipppunkte erreicht werden. Gleichzeitig könnte die Menschheit auf Erfolgskurs gebracht werden, wenn sie diesen Moment nutzt, um eine solide Politik zu etablieren und Musterlösungen für Pionierthemen wie KI zu entwickeln. Es steht also mehr denn je auf dem Spiel. Dort, wo es den Mitgliedstaaten an politischem Willen mangelt, kommt der Zivilgesellschaft und integrativen Prozessen eine entscheidende Rolle zu.

Vernetzter und integrativer Multilateralismus

Inhaltlich präsentierte der HLAB-Bericht eine neue Vision für einen vernetzten und integrativen Multilateralismus, indem er politische Vorschläge zur Förderung der Rechenschaftspflicht, eines gerechten digitalen Übergangs und einer Neuausrichtung der internationalen Finanzarchitektur unterbreitete und kollektive Sicherheitsvereinbarungen befürwortete. Die verschiedenen Vorschläge des Berichts, wie etwa die Entwicklung einer globalen Architektur für die KI-Governance und die Reform der internationalen Finanzarchitektur, haben im Hinblick auf den Zukunftsgipfel beträchtliche Resonanz gefunden.[22]

In verfahrenstechnischer Hinsicht werden vernetzte und integrative Ansätze entscheidend sein, um die wirksame Umsetzung des Pakts zu gewährleisten, insbesondere angesichts der Dualität der nach innen und nach außen gerichteten Theorie des Wandels. Auf der UN-Konferenz der Zivilgesellschaft im Mai dieses Jahres in Nairobi wurden rund 20 ›ImPact‹-Koalitionen ins Leben gerufen, die sowohl einen Unterstützungsrahmen für die Mitgliedstaaten als auch einen Mechanismus für die Umsetzung spezifischer Maßnahmen des Zukunftspakts und der im Anhang enthaltenen Dokumente entwickeln sollen.[23]

Insgesamt spiegelt dieser Prozess die Notwendigkeit wider, eine stärker vernetzte und integrative Form des Multilateralismus zu etablieren. Die UN75-Erklärung begann als globaler Prozess, bei dem der Fokus auf »Wir, die Völker« nach der UN-Charta lag, und wurde mit Konsultationen von Interessengruppen im Rahmen des Zukunftsgipfelprozesses fortgesetzt. In jüngster Zeit haben zivilgesellschaftliche Organisationen (CSO) auf der Konferenz in Nairobi und bei den Konsultationen der Interessengruppen weitere Beiträge geleistet und ihre einzigartigen Stärken in Bezug auf das, was sie in einem Prozess anbieten – und nicht nur erwarten – können, deutlich gemacht. Letztlich spiegelt dies einen umfassenderen Wandel dahingehend wider, wie die Mitwirkung der Zivilgesellschaft im multilateralen Rahmen gesehen wird. Dabei zeichnet sich ein Übergang von den traditionellen Formaten, bei denen in erster Linie die Mitgliedstaaten beteiligt sind und die Beteiligung der CSO oft begrenzt ist, zu informelleren Formaten ab, bei denen sich die Mitgliedstaaten aktiv an CSO-gestalteten Foren beteiligen. Beide Ansätze sind wichtig, um für die kommenden Herausforderungen gerüstet zu sein.

Der Präsident der Generalversammlung spielt eine wichtige Rolle als Bindeglied, wenn es darum geht, den Geist eines vernetzten, integrativen und effizienten Multilateralismus zu fördern. Damit die entsprechenden Bemühungen weiterverfolgt werden, könnte der Präsident der Generalversammlung die Nachbereitung des Zukunftsgipfels leiten, indem er nichtstaatliche Akteure und Interessengruppen wie die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft, den Privatsektor und die Fachwelt mit den Mitgliedstaaten vernetzt und die integrative Umsetzung der Prozesse unterstützt. Ein solcher Ansatz sollte von den Netzwerken der zivilgesellschaftlichen Akteure aktiv unterstützt werden.

Aus dem Englischen von Angela Großmann.


[1] Die Autoren danken Henrietta Skareng für ihre Recherchen zu diesem Artikel. World Health Organization (WHO), Impact of COVID-19 on People’s Livelihoods, Their Health and Our Food Systems, 13.10.2022, www.who.int/news/item/13-10-2020-impact-of-covid-19-on-people%27s-livelihoods-their-health-and-our-food-systems

[2]United Nations, The Sustainable Development Goals Report 2021, Juli 2021, S. 11, unstats.un.org/sdgs/report/2021/The-Sustainable-Development-Goals-Report-2021.pdf

[3]Jeff Masters/Dana Nuccitelli, The Top 10 Extreme Weather and Climate Events of 2020, EcoWatch, 23.12.2020, www.ecowatch.com/extreme-weather-climate-2020-2649628910.html

[4]UN, UN75. Shaping our Future Together, New York, Januar 2021, www.un.org/sites/un2.un.org/files/2021/01/un75_final_report_shapingourfuturetogether.pdf

[5]UN, Our Common Agenda, Report of the Secretary General, 10.9.2021, www.un.org/en/content/common-agenda-report/assets/pdf/Common_Agenda_Report_English.pdf

[6]Office of the Under-Secretary General and Special Adviser on Preparations for the Commemoration of the UN’s 75th Anniversary. Shaping Our Future Together: Listening to People’s Priorities and Expectations of International Cooperation, Januar 2021, S. 4, www.un.org/sites/un2.un.org/files/2021/01/un75_final_report_shapingourfuturetogether.pdf

[7]UN-Dok. A/RES/75/1 v. 28.9.2020.

[8]UN-Dok. A/75/982 v. 10.9.2021.

[9]UN, Global Leadership Team, United Nations Youth Office, www.un.org/sg/en/global-leadership/united-nations-youth-office/all

[10]UN, United Nations Futures Lab Network, un-futureslab.org/

[11]United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2023/2024: Breaking the Gridlock, 13.3.2024, hdr.undp.org/system/files/documents/global-report-document/hdr2023-24reporten.pdf

[12]HLAB, A Breakthrough for People and Planet: Effective and Inclusive Global Governance for Today and the Future, New York 2023, highleveladvisoryboard.org/breakthrough/; UN, Our Common Agenda Policy Brief Series, März-September 2023, www.un.org/en/common-agenda/policy-briefs

[13]Special Adviser of the Secretary-General on the Transforming Education Summit and the UNESCO Transforming Education Summit Secretariat, Report on the 2022 Transforming Education Summit, Januar 2023, S. 3 und 6, www.un.org/sites/un2.un.org/files/report_on_the_2022_transfor­ming_education_summit.pdf

[14]UN, Our Common Agenda, a.a.O. (Anm. 5), S. 5.

[15]International Institute for Sustainable Development, ›Twin Summits‹ to Pave Way for Sustainable, Equitable, Inclusive Future, SDG Knowledge Hub, 10.8.2022, sdg.iisd.org/news/twin-summits-to-pave-way-for-sustainable-equitable-inclusive-future/; UN-Generalversammlung, Informal Consultations on the Summit of the Future, 14.2.2023, journal.un.org/en/new-york/meeting/officials/59032230-d67a-46f1-397b-08dadd2da4ba/2023-02-14

[16] Siehe dazu auch den Hauptbeitrag von Marianne Beisheim und Jens Martens in diesem Heft.

[17]UN, Summit of the Future, Pact for the Future, Rev.2, www.un.org/sites/un2.un.org/files/pact_for_the_future_-_rev.2_-_17_july.pdf

[18]UN, Summit of the Future, Declaration on Future Generations, Rev.2, ww.un.org/sites/un2.un.org/files/sotf-declaration-on-future-generations-rev2.pdf, UN, Office of the Secretary-General’s Envoy on Technology, Global Digital Compact, Rev.2, www.un.org/techenvoy/sites/www.un.org.techenvoy/files/GlobalDigitalCompact_rev2.pdf

[19]UN, Office of the Secretary-General’s Envoy on Technology, Global Digital Compact, www.un.org/techenvoy/global-digital-compact

[20]UN Civil Society Conference 2024, ›ImPact‹ for the Future Outcome Package, 30.5.2024, www.un.org/sites/un2.un.org/files/2024uncsc_impact_for_the_future_outcome_package.pdf

[21]UN, The Sustainable Development Goals Report 2023: Special Edition, New York 2023, unstats.un.org/sdgs/report/2023/The-Sustainable-Development-Goals-Report-2023.pdf

[22]HLAB, A Breakthrough for People and Planet, a.a.O. (Anm 12).

[23]UN Civil Society Conference 2024, ›ImPact‹, a.a.O. (Anm. 20).

Das könnte Sie auch interessieren