Standpunkt | Fehlende UN-Strategie
Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung wird – wie auch mehrfach von UN-Generalsekretär António Guterres – die »Abkehr vom Multilateralismus« beklagt. Fakt ist: Die multilaterale Weltordnung befindet sich in einer tiefen Krise – das zeigt zuletzt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Gebetsmühlenartig wurde und wird die ›Stärkung‹ des Multilateralismus gefordert – mit einer internationalen ›Allianz für den Multilateralismus‹ oder einem umfangreichen ›Weißbuch Multilateralismus‹ unter der vormaligen Bundesregierung. Politische Einsicht und naheliegende Schlussfolgerung: Das Forum, der Kristallisationspunkt für einen ›globalen‹, weil weltumspannenden Multilateralismus sind nun einmal die Vereinten Nationen und nicht selektive Foren wie etwa die Gruppe der Sieben (G7).
Doch während Europa auf Ebene des Rates der Europäischen Union (EU), das heißt die Außenministerinnen und Außenminister der Mitgliedstaaten, also auch Deutschlands, sowie das Parlament jährlich Leitlinien für eine gemeinsame europäische UN-Politik beschließen und dieser Rat betont, der Multilateralismus mit den Vereinten Nationen sei als Kernstück ein Eckpfeiler der Außenpolitik der Union, wurden bislang weder von den Bundesregierungen noch vom Bundestag entsprechende nationale Aktionspläne vorgelegt. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag fehlt die Ankündigung einer vorausschauenden Konkretisierung der deutschen UN-Politik.
Die Sicherung des Friedens als Hauptaufgabe der UN wird völlig ausgeblendet.
Fehlende Konkretisierung ist auch kennzeichnend für die Stoßrichtung des zukünftigen UN-Engagements. Nach einem pauschalen Bekenntnis zur ›Stärkung‹ der Vereinten Nationen wird der Ausgestaltung der deutschen UN-Politik in den zentralen Politikfeldern Klima und Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtsschutz nur wenig Raum und Substanz eingeräumt.
Unverständlicherweise wird jedoch der komplexe und immer wieder zu hinterfragende Hauptaufgabenbereich der Weltorganisation, die Sicherung des Friedens, im Vertrag völlig ausgeblendet – unverständlich insbesondere bei gleichzeitiger intensiver Reformdiskussion: In der von Guterres angestoßenen Überprüfung der Friedens- und Sicherheitsarchitektur sind die Friedenssicherungseinsätze als das wichtigste friedenspolitische UN-Instrument ein zentraler Reformbereich. Die Mandatierung der UN-Friedensmissionen steht – insbesondere im Sicherheitsrat – auf dem Prüfstand. Gefordert wird eine jeweils integrierte Strategie, die einen klaren Weg zur Herbeiführung eines dauerhaften Friedens aufzeigt, sodass die Einsätze zielgerichteter und zukunftsfähiger werden. Angesichts der aktuellen Diskussion über die Einsatzmodalitäten deutscher UN-Friedenstruppen sei darauf verwiesen, dass bei der Teilnahme an UN-Missionen deren Mandatierung nicht in Berlin, sondern in New York erfolgt.
Im Gegensatz zu dem ausdrücklichen ›Streben‹ der vorigen Koalitionen nach einem ständigen deutschen beziehungsweise europäischen Sitz im Sicherheitsrat bleibt eine Reform des Rates für die neue Regierung lediglich »ebenso unser Ziel wie eine gerechtere Repräsentanz aller Weltregionen«. Angesichts des weiterhin gemeinsamen Auftretens der ›G4‹-Reformgruppe bestehend aus Brasilien, Deutschland, Indien und Japan in der andauernden Debatte um eine Ratserweiterung ist klärungsbedürftig, ob die gegenwärtige Regierungskoalition den Anspruch auf einen ständigen deutschen Sitz weiterhin aufrechterhält.
Um das Wirken des UN-Systems effizienter mitzugestalten, hätte die Koalition in ihrem Abkommen deutlich mehr handlungsweisende Kreativität entwickeln müssen. Dringend notwendig ist die Ausarbeitung einer kohärenten deutschen UN-Politik mit konkreten Zielvorgaben und entsprechenden Umsetzungsstrategien – möglichst im Verband mit europäischen Partnern.
Lesen Sie auch den Standpunkt: Für ein Ministerium für Globale Strukturpolitik von Christian E. Rieck in diesem Heft. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam und Lehrbeauftragter für Internationale Beziehungen in Berlin und Madrid. Er fordert, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) sich konsequent dem Schutz globaler Güter verpflichten sollte.