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Aufhebung des Patentschutzes für COVID-19-Impfstoffe? Ja!

Anne Jung fordert, dass Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt werden, um die COVID-19-Pandemie gerecht zu bekämpfen. Han Steutel lehnt die Aufhebung des Patentschutzes ab, da Forschung behindert und das Problem der noch fehlenden Produktionskapazitäten verschärft würden.

 

Entladung von Impfstoffpaketen auf dem Flughafen in Benin.
Ein Jahr nach Beginn der COVID-19-Pandemie in Benin lieferte die COVAX-Initiative am 10. März 2021 144.000 Dosen des Impfstoffs von AstraZeneca/Oxford von Indien nach Cotonou in Benin. Foto: Flickr/presidencebenin

Anne Jung ist als Gesundheitsreferentin bei der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international e.V. tätig. Sie fordert, dass Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt werden, um die COVID-19-Pandemie schnellstmöglich und gerecht zu bekämpfen.

Über alle Parteigrenzen hinweg wird seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie Soli­darität eingefordert. Gesundheit sei, so heißt es von Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ein Menschenrecht und der sehnsüchtig erwartete Impfstoff ein globales öffentliches Gut. Diese hehren Worte erweisen sich bei genauer Betrachtung jedoch als Schall und Rauch – denn bei der Verteilung des Impfstoffs geht es ganz und gar nicht gerecht zu. Auf zehn wohlhabende Staaten entfallen 75 Prozent der bislang verimpften Dosen, während in 130 Ländern bis Ende Februar noch niemand geimpft wurde. Die Pandemie weist auf die Risse in unserer Weltgesellschaft hin.

Eines der größten Hindernisse bei der gerechten Versorgung mit Impfstoffen ist das Patentsystem mit seinen immer weiter voranschreitenden Verflechtungen. Es sorgt dafür, dass die Kosten für die Impfstoffe hochpreisig sind und die Produktion nicht wie dringend nötig an viele Orte der Welt von Dhaka bis Kapstadt ausgeweitet wird. Die Zusammensetzung des Impfstoffs zu kennen, ist Voraussetzung für die technologische Ausstattung.

Worin liegen die Ursachen für die Impfungerechtigkeit? Trotz der größten Gesundheitskrise der letzten 100 Jahre regiert die Politik wie üblich. Die Industriestaaten halten am Patentsystem und der Kapitalisierung von Gesundheitswissen fest. Und dies, obwohl das Patentsystem bereits bei der HIV/Aids-Pandemie dazu geführt hat, dass Hunderttausende Menschen starben, weil sie die teuren Medikamente nicht bezahlen konnten.

Es sind Deutschland, Europa und mit ihnen fast alle Industrienationen, die durch intransparente Verträge dafür sorgen, dass das Wissen, das in den COVID-19-Impfstoffen steckt, den Pharmaunternehmen gehört, obwohl Milliardenbeträge aus öffentlichen Kassen in die Erforschung und Entwicklung der Impfstoffe geflossen sind. Die Industrienationen haben den Unternehmen vertraglich die Entscheidungsmacht verliehen, wie, wo und in welcher Anzahl die Impfstoffe hergestellt werden und wie viel sie kosten. Die Gesundheitsrisiken wurden vergesellschaftet, die Gewinne privatisiert.
Diese Staaten haben auch entschieden, die bestehende Marktordnung gegen die Gesundheitsbedürfnisse der Menschen und gegen die epidemiologischen Notwendigkeiten der Pandemieeindämmung zu verteidigen, indem sie die Initiative von über 100 Ländern des Globalen Südens zur Aussetzung des Patentrechts bei der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) torpedieren.

Die Folge ist eine künstliche Verknappung der Impfstoffe. Spendenbasierte Initiativen wie der Globale Zugang zu COVID-19-Impfstoffen (COVID-19 Vaccines Global Access – COVAX), die auf freiwil­ligen Zuwendungen von Staaten, Pharmaindustrie und philantrokapitalistischen Stiftungen basieren, sind nicht hinreichend und halten die benachteiligten Staaten in Abhängigkeit. Hilfe ersetzt das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit und kann angesichts struktureller Ungleichheit nicht mehr sein als ein schlecht klebendes Pflaster, das nach Theodor Adorno die »sichtbaren Wundstellen der Gesellschaft planmäßig zukleben soll«.

Gebraucht wird jetzt eine an den Gesundheitsbedürfnissen aller Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt. Dies ist die Vor­aussetzung dafür, Medikamente zur Behandlung von COVID-19 und einen Impfstoff mit der gebotenen Sorgfalt zu entwickeln, flächendeckend zu produzieren und gerecht verteilen zu können.

Mit der Entkoppelung von Forschungskosten und Preisen bei Medikamenten lassen sich neue Anreizmechanismen setzen, die Innovationen fördern und zugänglich machen. Das ist langfristig kostengünstiger als das System von Patenten und anderen Rechten des geistigen Eigentums. Und zudem gelebte Solidarität.
 

Siehe auch den Standpunkt von Han Steutel, Aufhebung des Patentschutzes für COVID-19-Impfstoffe? Nein!

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