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Standpunkt | Angefeindet, aber unverzichtbar

Dr. Bente Scheller leitet das Referat Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Sie betont, dass trotz aller Kritik die humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung und die Kommunikation zwischen den Konfliktparteien die wichtigsten Aufgaben der UN im Nahen Osten sind.

Blick auf die Vertreter im Sicherheitrat und Zuschaltung von UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini via Video.
Der Sicherheitsrat hat sich im Oktober 2024 mit der Lage im Nahen Osten und der Palästinafrage befasst. Auf dem Bildschirm ist Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), zu sehen. UN Photo/Eskinder Debebe

Dass das Vertrauen in die Vereinten Nationen im Nahen Osten nie geringer war, zeigte sich in den vergangenen Monaten an vielen Stellen: Im Mai 2024 schredderte der Ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, die UN-Charta inmitten des Plenums. Damit zeigte er seinen Unmut über die damals getroffene Entscheidung der UN-Generalversammlung, Palästina mehr Rechte in den UN zu geben. Ebenfalls in der Generalversammlung bedauerte im Oktober 2024 der jordanische König Abdullah II. bin al-Hussein, dass die blauen UN-Flaggen es nicht vermocht hätten, unschuldige Zivilpersonen vor israelischen Bombardements zu schützen. 

Seitdem der Staat Israel im Jahr 1948 gegründet wurde, prägt Misstrauen die Beziehungen zu den UN. Israel sieht sich insbesondere in der Generalversammlung zu Unrecht angeprangert, da sich überproportional viele ihrer Resolutionen auf Israel beziehen. Arabische Staaten wiederum werfen den Vereinten Nationen Voreingenommenheit zugunsten Israels vor, weil Sicherheitsratsresolutionen zur Lösung des Nahostkonflikts unzureichend oder gar nicht umgesetzt werden.
Seit infolge der Angriffe der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel der Gaza-Krieg begonnen hat, geraten UN-Organisationen im Nahen Osten immer stärker unter Druck. In Libanon wurde die Interimstruppe der Vereinten Nationen in Libanon (United Nations Interim Force in Lebanon – UNIFIL) sowohl von der Hisbollah als auch von israelischen Streitkräften mehrfach angegriffen. Und das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – UNRWA) hat mittlerweile 233 tote Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beklagen, die bei den Angriffen auf den Gazastreifen getötet wurden. Sein Mandat zur humanitären Versorgung von 1,7 Millionen Menschen in Gaza kann das UNRWA kaum noch ausüben, weil Israel humanitäre Hilfe blockiert. Zudem verabschiedete das israelische Parlament Anfang November Gesetze, die den zukünftigen Betrieb des UNRWA unmöglich machen werden.

So groß die Enttäuschung über ein vermeintliches Versagen der UN-Institutionen sein mag, es gibt keine Alternativen. Keine andere Organisation verfügt über die Logistik und das Personal des UNRWA, keine andere über das Mandat, die umfassenden humanitären Leistungen für die palästinensischen Geflüchteten seit dem Jahr 1948 zu übernehmen oder Schulen zu betreiben. Auch andere UN-Organisationen sind insbesondere in Gaza auf das UNRWA angewiesen, um beispielsweise Polio-Impfungen durchzuführen. Denn nur dieses verfügt über die entsprechende Infrastruktur und Netzwerke.

In Libanon hat die UNIFIL trotz ihres wenig robust angelegten Mandats seit dem Jahr 2006 dazu beigetragen, dass es zu keinen größeren Kampfhandlungen zwischen Israel und Libanon kam. Der sogenannte ›Dreiparteien-Mechanismus‹ – ein Austauschformat zwischen Israel, Libanon und den Vereinten Nationen – ist der einzige direkte Gesprächskanal zwischen den beiden offiziell seit Jahrzehnten im Kriegszustand befindlichen Staaten.

Die UN können den Konflikt nicht über die Köpfe der Konfliktparteien hinweg lösen, wenn es am politischen Willen ihrer Mitgliedstaaten mangelt. Diese müssen aber alles tun, um zu gewährleisten, dass die von ihnen mandatierten Organisationen ungehindert arbeiten können. Um die Konfliktfolgen aufzufangen und eine weitere Eskalation zu verhindern, indem sie Versorgung und Kommunikation auch in Zeiten größter Anspannung aufrechterhalten, sind diese unverzichtbar.
 

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