Menü

Verliert das Internet Governance Forum an Bedeutung?

Das Internet Governance Forum (IGF) wird in diesem Jahr erstmals in Deutschland stattfinden. Angesichts der zunehmenden Fragmentierung der Regelsetzung für das globale Internet stellen viele die Rolle der Vereinten Nationen für die internationale Kooperation im Bereich der Digitalpolitik zunehmend infrage.

Präsident Emmanuel Macron am Rednerpult während der Eröffnung des Internet Governance Forums.
Präsident Emmanuel Macron eröffnete das Internet Governance Forum am 12. November 2018 in Paris. FOTO: PICTURE ALLIANCE/MAXPPP

Das Internet Governance Forum (IGF) wird in diesem Jahr erstmals in Deutschland stattfinden. Angesichts der zunehmenden Fragmentierung der Regelsetzung für das globale Internet stellen viele die Rolle der Vereinten Nationen für die internationale Kooperation im Bereich der Digitalpolitik zunehmend infrage.

Im November dieses Jahres richtet Deutschland erstmals die weltweit größte Konferenz im Bereich der globalen Internetpolitik aus: das Internet Governance Forum (IGF) der Vereinten Nationen. Viele Expertinnen und Experten im In- und Ausland hegen die Erwartung, dass die Bundesregierung diese Gelegenheit nutzen wird, um ein Zeichen für mehr internationale Kooperation im Digitalbereich zu setzen. Doch wie soll eine solche Zusammenarbeit aussehen? Wer soll Entscheidungen verantworten? Und welche Rolle kommt dabei Regierungen und internationalen Organisationen zu?

Diese Fragen sind nicht neu. Vielmehr liegen sie einem seit langem schwelenden Konflikt zwischen den Akteuren der globalen Internetpolitik zugrunde. Angesichts der stetig wachsenden Bedeutung, die der digitalen Transformation in den letzten Jahren zugeschrieben wird, und der Vielzahl der von der Digitalisierung betroffenen Themengebiete hat die Klärung von Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten der Zusammenarbeit in Regulierungsfragen jedoch an neuer Aktualität gewonnen. Gleichzeitig setzen Regierungen und international agierende Unternehmen bei vielen Themen – wie dem Datenschutz oder der Reglementierung von Inhalten in sozialen Medien – auf eigene Lösungen. Dies führt zu einer zunehmenden Fragmentierung der Regelsetzung im Digitalbereich, die wiederum die Abstimmung und Koordination auf der globalen Ebene erschwert.

Eine besondere internationale Zusammenarbeit

Das Internet ist ein digitales Netzwerk, das eine Vielzahl an lokalen und regionalen Netzwerken miteinander verbindet. Aufgrund seiner globalen Reichweite, seiner technischen Beschaffenheit und der vielfältigen Dienste und Nutzungsmöglichkeiten, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, ist das Internet heutzutage eine bedeutungsvolle Infrastruktur für grenzüberschreitende Kommunikations-, Informations- und Finanzflüsse. Seine gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Bedeutung kann daher kaum überschätzt werden. Die zahlreichen Regelungs- und Koordinationsprozesse, die sich für das globale Internet, seine Nutzung und die damit verbundenen Auswirkungen entwickelt haben, werden in ihrer Gesamtheit als Internet Governance bezeichnet.[1]

Die zentrale Bedeutung des Internets und die Besonderheit seiner technischen Infrastruktur, von geografischen Grenzen unabhängig zu sein, wurden vielen politischen Akteuren spätestens im Zuge seiner weltweiten Ausbreitung und beginnenden kommerziellen Nutzung in den 1990er Jahren bewusst. Um der Diskussion über die Möglichkeiten des Internets und den damaligen Herausforderungen eine internationale Plattform zu bieten, organisierten die UN in den Jahren 2003 und 2005 einen ersten Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society – WSIS). Eigentlich als Entwicklungskonferenz konzipiert, wurden die inhaltlichen Debatten des Weltgipfels schnell von zwei politischen Konflikten überschattet: dem Streit über die bestmögliche Koordination und Verwaltung der weltweiten Internet-Infrastruktur sowie der Frage, welche Akteursgruppen an den Debatten teilhaben und Entscheidungen beeinflussen sollten.[2]

13 Jahre nach dem ersten Internet Governance Forum wird seine Relevanz heute zunehmend infrage gestellt.

Ein Großteil der anwesenden Regierungsvertreterinnen und -vertreter forderte, dass internetpolitische Fragen durch zwischenstaatliche Verhandlungen zu lösen seien – ganz nach dem Vorbild des internationalen Fernmeldewesens, für das die Internationale Fernmeldeunion (International Telecommunication Union – ITU) zuständig ist. Im Gegenzug drangen Vertreterinnen und Vertreter der USA und anderer westlicher Staaten sowie der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Technik auf nichtstaatliche und partizipative Entscheidungs- und Koordinationsprozesse.[3] Eine Verwaltung durch internationale Organisationen würde – so die gängige Perspektive hier – aufgrund von national unterschiedlichen Zielvorstellungen und kurzsichtigen Interessen einiger Staaten der Weiterentwicklung des globalen Internets im Wege stehen. Um den involvierten Gruppen weiteren Raum zum Austausch zu bieten, richten die Vereinten Nationen seit dem Jahr 2006 das jährliche Internet Governance Forum aus. Das IGF stellt nicht nur eines der wenigen handfesten Ergebnisse des Weltgipfel-Prozesses dar; die UN konzipierten es zudem als Multi-Akteurs-Forum, bei dem sich Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen mit denen nichtstaatlicher Akteursgruppen gleichberechtigt und ergebnisoffen über eine große Bandbreite an Themen austauschen. Damit trugen sie sowohl den infrastrukturellen Besonderheiten des Internets Rechnung als auch seiner Entwicklungsgeschichte, die in weiten Teilen relativ unabhängig von staatlicher Einflussnahme verlaufen war.

Erfolgsmodell in der Krise

Doch 13 Jahre nachdem das erste Internet Governance Forum im Jahr 2006 in Athen stattfand, scheint die Relevanz des Forums heute zunehmend infrage gestellt. Auffallend ist dabei, dass auch die Akteure Zweifel an der Effizienz und Sinnhaftigkeit des IGFs hegen, die das nichthierarchische, partizipative Diskussionsformat bisher begrüßt hatten. Nicht zuletzt, weil die Vereinten Nationen den ergebnisoffenen Ansatz des IGFs der Regelsetzung durch eine zwischenstaatliche Institution wie der ITU, in denen Beschlüsse allein durch staatliche Vertreter gefasst werden, gegenüberstellten. Anders als diplomatische Aushandlungsprozesse zielt das Mandat des IGFs auf einen offenen Ideenaustausch und nicht auf die Verhandlung konkreter Ergebnisse ab. Im Gegenzug soll das IGF bewusst keine bestehenden zwischenstaatlichen oder anderweitigen Institutionen ersetzen, sondern kann diesen allemal Empfehlungen aussprechen.[4]

Auch durch seine Organisationsform ist das IGF dem UN-System zugeordnet, unterscheidet sich aber gleichzeitig von reinen UN-Gremien. Strategische Programmentscheidungen werden von der mehrmals pro Jahr tagenden Multi-Akteurs-Beratergruppe (Multi-Stakeholder Advisory Group – MAG) getroffen, deren ungefähr 50 Sitze vom UN-Generalsekretär bestimmt werden und die sowohl die unterschiedlichen Akteursgruppen als auch die fünf Weltregionen gleichmäßig repräsentieren sollen. Etwa 40 Prozent der Sitze fallen jedoch Regierungsvertreterinnen und -vertretern zu, die – unterstützt durch die ständigen Vertreterinnen und Vertreter aller bisherigen gastgebenden Staaten – mit Abstand die größte Akteursgruppe innerhalb der MAG bilden.[5] Das in Genf angesiedelte IGF-Sekretariat wird durch Spendenzahlungen verschiedener Akteursgruppen finanziert und besteht aus einigen wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vereinten Nationen, die das jährlich stattfindende Forum vorbereiten und seine Organisation mit dem gastgebenden Land koordinieren. Letzteres trägt zudem in weiten Teilen die Kosten für die Veranstaltung selbst, was erneut in einer Sonderstellung der Regierung gegenüber anderen Akteursgruppen resultiert.

Anders gestaltet sich die Akteursverteilung unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des IGFs. Seit seiner Gründung stieg die Teilnehmerzahl stark an, von weniger als 1500 Personen im Jahr 2006[6] auf mehr als 3000 im Jahr 2018.[7] Während sich die Anzahl an anwesenden Regierungsvertreterinnen und -vertretern und nichtstaatlichen Akteuren anfänglich noch fast die Waage hielten, stellt die Zivilgesellschaft spätestens seit dem Jahr 2011 mit Abstand die größte Teilnehmergruppe. Diese ungleiche Beteiligung führt vor Augen, dass das Format des IGFs, bei dem die Beteiligung prinzipiell allen Interessierten offensteht, nicht automatisch in einer natürlich ausgewogenen Repräsentation von globalen Akteuren, Meinungen und Perspektiven resultiert. Verstärkt wird diese Tendenz durch die wenig überraschende Tatsache, dass stets ein Großteil der IGF-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer aus westlichen, hochentwickelten Staaten stammt und somit sowohl die Sensibilisierung für und Expertise in internetpolitischen Fragen als auch die finanziellen Ressourcen für die Teilnahme an Veranstaltungen wie dem IGF ausschlaggebend sind.[8]

Zusätzlich zu der ungleichen Repräsentanz, die häufig in dem Vorwurf einer mangelnden Ausgewogenheit bezüglich der beim IGF vertretenen Perspektiven resultiert, besteht ein weiteres Problem in dem Fehlen strategischer Akteursnetzwerke. Trotz des stetig zunehmenden Spektrums der beim IGF diskutierten Themen, zeigen sowohl die großen Unternehmen der Digitalwirtschaft als auch die Institutionen, die für die technische Koordinierung und Weiterentwicklung der Internetinfrastruktur und der ihr zugrundeliegenden Protokolle und Normen zuständig sind, wenig Interesse, sich auf den offenen Dialog des IGFs einzulassen. Vielmehr vertreten sie – wenn denn präsent – ihre festgelegten Interessen und entziehen sich damit einem ergebnisoffenen Austausch, der potenziell zu Konsens über neue Verantwortlichkeiten, Prinzipien und Koordinationsmechanismen führen könnte.[9] Insbesondere die Diskussion über technische Fragen findet hauptsächlich außerhalb des IGFs und damit außerhalb des direkten Wirkungsbereichs der UN statt. Stattdessen bringen sich technische Expertinnen und Experten sowie Unternehmen in anderen Multi-Akteurs-Institutionen ein, wie der Arbeitsgruppe für Internettechnik (Internet Engineering Taskforce – IETF), die über die technische Weiterentwicklung des Internets berät, oder der Zentralstelle für die Vergabe von Internet-Namen und -Adressen (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers – ICANN), die für die Koordination der Internet-Infrastruktur zuständig ist.

Während sich diese Organisationen bereits vor der Gründung des IGFs etabliert hatten und die Aufgabenteilung somit historisch gewachsen ist, liegt ein weiterer Grund für das geringe Interesse einiger Akteursgruppen darin, dass das IGF – im Gegensatz zu den meisten UN-Konferenzen – eben bewusst keine Beschlüsse verhandelt und die dort geführten Diskussionen somit keine unmittelbare Relevanz für die Regelsetzung auf der internationalen oder nationalen Ebene haben. So resultiert der fehlende Verhandlungsdruck, der ursprünglich von vielen befürwortet wurde, bei immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern in dem Eindruck, dass es sich beim IGF um eine reine ›Gesprächsrunde‹ handele, deren reale Auswirkungen auf politische Entscheidungsprozesse nicht der Bedeutung entspreche, die ihm von seinen Befürworterinnen  und Befürwortern zugeschrieben wird.[10] Die Frustration über diese ernstzunehmenden Kritikpunkte trübt spürbar den Enthusiasmus, den die globale Multi-Akteurs-Gemeinschaft dem IGF in seinen Anfangsjahren entgegengebracht hatte.

Souveräne Staaten in der globalen Internetpolitik

Gänzlich neu ist die Kritik am IGF nicht. Die offene Struktur des Forums, bei der die Themensetzung auf der Basis von Einreichungen stattfindet und Regierungen nur eine stark eingeschränkte Sonderrolle zukommt, ist die bisher konsistenteste Umsetzung eines Multi-Akteurs-Ansatzes für Internet Governance im Rahmen der Vereinten Nationen.[11] Für die Befürworterinnen und Befürworter multilateraler Entscheidungsprozesse unter Ausschluss nichtstaatlicher Akteure stellt das Forum dadurch ein klares Zugeständnis an die von den westlichen Industrienationen – allen voran den USA – vertretenen und propagierten Normen in Bezug auf das Internet dar, da in ihm alternative Wertvorstellungen und Regulierungsansätze kein ausreichendes Gehör finden. Insbesondere China und Russland, aber auch andere UN-Mitgliedstaaten, darunter Indien, Iran und Saudi-Arabien, fühlen sich durch diese Konstellation in ihrer nationalen Souveränitätsausübung eingeschränkt. Der Konflikt eskalierte im Dezember 2012 während der Weltweiten Konferenz für internationale Fernmeldedienste (World Conference on International Telecommunications – WCIT) der ITU. Bei der Neuverhandlung der Vollzugsordnung für internationale Fernmeldedienste (International Telecommunication Regulations – ITR) wünschten Staaten wie China, Iran und Russland, die Verantwortlichkeiten und Regularien der ITU auch auf das Internet auszudehnen. Die USA, die Länder der Europäischen Union (EU) und andere westliche Staaten lehnten diese Ausdehnung vehement ab, da sie die Freiheit des Internets gefährden würde. Sie weigerten sich letztendlich – trotz aller Mühen um einen Kompromiss – die ITR-Schlussakte zu unterzeichnen. Die auf beiden Seiten sehr dogmatisch vertretenen Positionen ließen viele Beobachterinnen und Beobachter den Beginn eines »Digitalen Kalten Kriegs« befürchten.[12]

Die UN ließen die Gelegenheit verstreichen, das IGF mit einer langfristigen Finanzierung und der Kompetenz, Ergebnisse auszuhandeln, auszustatten.

Im letzten Jahrzehnt beauftragten die UN verschiedene Gremien mit der diplomatisch schwierigen Aufgabe, eine Kompromisslösung zu finden, die sowohl die Befürworter eines Multi-Akteurs-Formats für Internet-Governance-Prozesse als auch die Verfechter multilateraler Entscheidungsfindung zufrieden stellen könnte. Als sinnbildliches Beispiel für das Scheitern dieser Vermittlungsversuche kann die Arbeitsgruppe für eine verstärkte Zusammenarbeit bei Fragen der öffentlichen Ordnung im Zusammenhang mit dem Internet (Working Group on Enhanced Cooperation on Public Policy Issues Pertaining to the Internet – WGEC) gelten. Ihren Mitgliedern gelang es zwischen den Jahren 2013 und 2018 nicht, Empfehlungen zu erarbeiten, denen alle uneingeschränkt zustimmen konnten. Das aus Vertreterinnen und Vertretern aller Akteursgruppen bestehende Gremium entwickelte zwar viele neue Ideen, wie die Vereinten Nationen als koordinierende Instanz souveränen Regierungen eine zentrale Rolle für die Koordination und Regelsetzung der internationalen Internetpolitik geben könnten, ohne dabei die bestehenden Multi-Akteurs-Institutionen vollständig zu entmachten. Ein Konsens über diese Lösungen scheiterte jedoch stets an den verhärteten Positionen.[13]

Diesem jahrelangen und scheinbar unauflöslichen Konflikt zum Trotz verlängerte die UN-Generalversammlung das Mandat des IGFs während des zehnjährigen Jubiläums des WSIS im Jahr 2015 um weitere zehn Jahre.[14] Gleichzeitig ließen die Vereinten Nationen auch zu diesem Zeitpunkt die Gelegenheit verstreichen, das Forum mit einer langfristigen Finanzierung und der Kompetenz, Ergebnisse auszuhandeln, auszustatten. Damit beließen sie das IGF weiterhin in dem seit dem Abschluss des WSIS im Jahr 2005 bestehenden Machtvakuum, das zunehmend von anderen Akteuren genutzt wurde, um sich in der internationalen Digitalpolitik strategisch zu positionieren. So haben sich über die letzten Jahre hinweg eine Vielzahl an neuen Gremien, Foren und Gruppen gegründet, die sich mit unterschiedlichen Thematiken der Internet Governance auseinandersetzen, die auch im IGF eine bedeutende Rolle spielen.

Ein Teil dieser neuen Akteure setzt ebenfalls auf ein Multi-Akteurs-Format, unterscheidet sich vom IGF jedoch durch den klaren Auftrag, Ergebnisse zu produzieren. Besondere Aufmerksamkeit erregte das von der brasilianischen Regierung und ICANN initiierte globale Multi-Akteurs-Treffen zur Zukunft des Internet Governance ›NETmundial‹, das im April 2014 in São Paulo in Brasilien stattfand und eine ähnliche Teilnehmerzahl und -diversität wie das IGF erzielte.[15] Ziel des Treffens war es, in einem partizipativen Verfahren einen Prinzipien-Katalog für Internet Governance sowie einen Aktionsplan für dessen Umsetzung zu erarbeiten. Jedoch hatten die verabschiedeten Dokumente für die teilnehmenden Akteure, inklusive der Regierungen, keinen bindenden Charakter. Dadurch sind ihre konkreten Auswirkungen heute nicht mehr spürbar und das Treffen entfaltete somit möglicherweise noch weniger Wirkkraft als das IGF.

Die durch die Diskussion um die Relevanz des beziehungsweise mögliche Alternativen zum IGF entstehende Leerstelle wird zunehmend auch von Regierungen genutzt, um ihre Souveränität im digitalen Raum auszubauen. Auf der internationalen Ebene bedeutet dies, dass einige Staaten einerseits ihre Bemühungen erhöhen, im Rahmen der ITU durch Reformvorschläge die institutionelle Hegemonie des Multi-Akteurs-Ansatzes zu schmälern.[16] Andererseits nutzen sie von ihnen mitbegründete Foren, um für alternative Internet-Governance-Normen und eine stärkere staatlich dominierte Regulierung digitaler Problemfelder zu werben – wie beispielsweise die seit dem Jahr 2014 von China ausgerichtete Welt-Internet-Konferenz, an der zunehmend ausländische Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter, jedoch kaum zivilgesellschaftliche Akteure teilnehmen.[17]

Die Diskussion um die Relevanz des IGF wird von Regierungen genutzt, um ihre Souveränität im digitalen Raum auszubauen.

Neben diesen multilateralen Bemühungen behaupten Staaten ihre Selbstbestimmung im digitalen Raum immer stärker, auch indem sie die Regulierung digitalpolitischer Probleme auf der nationalen Ebene zu lösen suchen. Zum einen umgehen sie durch nationale Maßnahmen langwierige internationale Abstimmungsprozesse, wie das Beispiel des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) zum Umgang mit Falschnachrichten und Hasskriminalität in sozialen Netzwerken verdeutlicht.[18] Zum anderen betrifft nationale Regulierung auch Themen- und Politikfelder, die grundsätzlich nicht Gegenstand der internationalen Zusammenarbeit sind, wie die Industrie- und Innenpolitik. So verabschieden derzeit neben autoritären und semi-autoritären Regimen wie China, Iran und Russland auch demokratische Staaten wie Brasilien, Deutschland, und Frankreich unter dem Begriff der ›Digitalen Souveränität‹ Strategien, die darauf abzielen, der gefühlten technischen und wirtschaft­lichen Übermacht ausländischer Technologieanbieter beziehungsweise Betreiber digitaler Dienste Grenzen zu setzen.[19] Neben der Förderung bestimmter Wirtschaftszweige bestehen diese Strategien vor allem in sicherheits- und bildungspolitischen Maßnahmen und in einigen Ländern auch in einer stärkeren Regulierung des Umgangs mit Daten und Informationen auf digitalen Plattformen.

Die internationale Zusammenarbeit wird auf die Probe gestellt

Die Zunahme an parallellaufenden internationalen Abstimmungsverfahren sowie die wachsende Bedeutung nationaler Digitalpolitik tragen ohne Zweifel zum Bedeutungsverlust der internationalen Zusammenarbeit in diesem Bereich bei. Die Fragmentierung der Koordinations- und Aushandlungsverfahren hat den Effekt, dass das Verbindende beziehungsweise die Verbindlichkeit der Gemeinschaft derer, die sich auf der globalen Ebene in Internet-Governance-Prozesse einbringen, zurückgeht. Die kaum überblickbare Vielfalt und Gleichzeitigkeit der Prozesse, die häufig thematische und personelle Überschneidungen aufweisen, führen zudem dazu, dass das IGF seinen Charakter als gemeinsame globale Großveranstaltung zunehmend verliert. Damit büßen auch die UN, die gemeinsam mit den gastgebenden Staaten als Organisatoren des IGFs fungieren, immer mehr ihre aktuelle Rolle im Institutionengefüge der Internet Governance ein.

Zur Herausforderung wird dieser Verlust von Einflussmöglichkeiten auch dadurch, dass die Reichweite, Komplexität und Dringlichkeit der unter Internet Governance gefassten Problemfelder aufgrund der digitalen Transformation in den letzten Jahren rasant zugenommen haben. Denn durch die umfassende Digitalisierung immer weiterer gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Bereiche werden die digitalpolitischen Fragen der Internet Governance immer mehr von einem politischen Randgebiet zu einem Querschnittsthema, das fast alle existierenden Politikfelder betrifft: der Umgang mit digitalen Daten und Informationen, digitalen Plattformen und Infrastrukturen, Zensur beziehungsweise Desinformation und Hetze, künstlicher Intelligenz und großen Datenmengen und anderen Themen sind heute regulatorische Fragen, deren Relevanz von der Gesundheits- bis hin zur Verkehrs- und Verteidigungspolitik reicht. Sie gehen dabei weit über das Internet als digitale Infrastruktur hinaus und betreffen gleichermaßen die aktuelle Wirtschaftsordnung wie auch die Fundamente unserer demokratischen Grundordnung. Es ist daher wenig überraschend, dass immer mehr Regierungen nationale Regelsetzung und Strategien den langwierigen, oft ergebnislosen Multi-Akteurs-Prozessen oder internationalen Aushandlungen vorziehen.

Gleichzeitig wird gerade aufgrund der zunehmenden Fragmentierung des digitalpolitischen Regelwerks die globale Zusammenarbeit wichtiger denn je. Nur die Diskussion, Koordination und Abstimmung auf der internationalen Ebene kann einen wirksamen Gegenpol zu dem wachsenden digitalen Protektionismus und den digitalen Souveränitätsbestrebungen einiger Staaten sowie deren Auswirkungen auf das Internet als zentrale Infrastruktur der globalen Digitalisierung darstellen. Die Wichtigkeit wurde während des letztjährigen IGFs in Paris von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Eröffnungsrede[20] thematisiert und wird sicherlich auch in diesem Jahr von der Bundesregierung betont werden. Sie bestimmte zudem auch den Grundtenor des kürzlich veröffentlichten Abschlussberichts der Hochrangige Gruppe für digitale Zusammenarbeit (High-level Panel on Digital Cooperation) – einem weiteren vom UN-Generalsekretär mandatierten Multi-Akteurs-Gremiums, neue Möglichkeiten der internationalen Kooperation im Digitalbereich zu erarbeiten.[21] Einer der von dem Panel vorgeschlagenen Mechanismen sieht eine institutionelle Erweiterung des IGFs vor, sodass dieses eine stärkere koordinierende Rolle als Beobachter von und Vermittler zwischen bestehenden Gremien und Institutionen einnimmt und darüber hinaus konkrete Regulierungsvorschläge entwickeln und vorlegen kann. Ob dieser konstruktive Vorschlag auch die Debatte des diesjährigen IGFs in Berlin prägt, wird davon abhängen, wie sich die Bundesregierung als Gastgeberin zur Rolle des IGFs und der Vereinten Nationen im Institutionengefüge der Internet Governance äußern wird. Eine Unterstützung des Vorschlags eines erweiterten IGFs wäre auf jeden Fall zu begrüßen.

 

[1] Julia Pohle/Lorena Jaume-Palasi/Matthias Spielkamp, Einführung in die Digitalpolitik, in: Lorena Jaume-Palasí/Julia Pohle/Matthias Spielkamp (Hrsg.), Digitalpolitik – eine Einführung, Berlin 2017.

[2] Milton Mueller, Networks and States: The Global Politics of Internet Governance, Cambridge, MA/London 2010, S. 59.

[3] Marc Raboy/Normand Landry/Jeremy Shtern, Digital Solidarities, Communication Policy and Multi-Stakeholder Global Governance: The Legacy of the World Summit on the Information Society, New York u.a. 2010, S. 67.

[4] UN Doc. WSIS-05/TUNIS/DOC/6(Rev. 1)-E v. 18.11.2005.

[5]Die genaue Anzahl der MAG-Mitglieder und die Quote der Regierungsvertreterinnen und -vertreter variiert von Jahr zu Jahr. In diesem Jahr sind 38 Prozent Repräsentantinnen oder Repräsentanten von Regierungen, siehe www.intgovforum.org/multilingual/content/mag-2019-members

[6] Avri Doria/Wolfgang Kleinwächter (Hrsg.), Internet Governance Forum (IGF): The First Two Years, Genf 2008, S. 61.

[7] IGF, Chair’s Summary & IGF Messages, Genf 2018, S. 8, www.intgovforum.org/multilingual/index.php?q=filedepot_download/6037/1555

[8] Jean-Marie Chenou, The Role of Transnational Elites in Shaping the Evolving Field of Internet Governance, Doktorarbeit, Université de Lausanne 2014, S. 55.

[9] Mueller, Networks and States, a.a.O. (Anm. 2), S. 124.

[10] William H. Dutton/John G. Palfrey/Malcom Peltu, Deciphering the Codes of Internet Governance: Understanding the Hard Issues at Stake, OII Forum Discussion Paper Nr. 8, Oxford 2007.

[11] Jeanette Hofmann, Multi-Stakeholderism in Internet Governance: Putting a Fiction Into Practice, Journal of Cyber Policy, 1. Jg., 1/2016, S. 37–38.

[12]The Economist, A Digital Cold War?, 14.12.2012, www.economist.com/babbage/2012/12/14/a-digital-cold-war

[13] Julia Pohle, Multistakeholder Governance Processes as Production Sites: Enhanced Cooperation »in the making«, Internet Policy Review, 5. Jg., 3/2016, S. 1–19.

[14] UN-Dok. A/RES/70/125 v. 16.12.2015.

[15] Francesca Musiani/Julia Pohle, NETmundial: Only a Landmark Event if ›Digital Cold War‹ Rhetoric Abandoned, Internet Policy Review, 3. Jg, 1/2014, S. 1–9.

[16] Severine Arsène, The Impact of China on Global Internet Governance in an Era of Privatized Control, Chinese Internet Research Conference, 2012, Los Angeles.

[17] Julien Nocetti, Contest and Conquest: Russia and Global Internet Governance, International Affairs Nr. 91, 2015; Daniel Voelsen, Risse im Fundament des Internets: Die Zukunft der Netz-Infrastruktur und die globale Internet Governance, SWP-Studie 12, Berlin 2019.

[18] Rafael S. Goldzweig u.a., Beyond Regulation: Approaching the Challenges of the new Media Environment, Dahrendorf Forum IV, Berlin 2018.

[19] Julia Pohle/Julius Lang, Digitale Souveränität als Frage der Selbstbestimmung im digitalen Raum, DGVN-Debatten-Blog, 2.7.2019, dgvn.de/meldung/digitale-souveraenitaet-als-frage-der-selbstbestimmung-im-digitalen-raum

[20]Speech by M. Emmanuel Macron, President of the Republic at the Internet Governance Forum, Paris 2018, www.elysee.fr/en/emmanuel-macron/2018/11/12/speech-by-m-emmanuel-macron-president-of-the-republic-at-the-internet-governance-forum

[21]Report of the UN Secretary-General’s High-level Panel on Digital Cooperation, The Age of Digital Interdependence, New York 2019, abrufbar unter www.un.org/en/pdfs/DigitalCooperation-report-for%20web.pdf

Das könnte Sie auch interessieren