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Klimawandel als Konflikttreiber in Nigeria

Nigeria steht vor akuten Bedrohungen, die sich gegenseitig beeinflussen: dem Terror der Boko Haram, Ressourcenkonflikten und dem Klimawandel. Das Forschungsgebiet der ökologischen Friedensförderung (Environmental Peacebuilding) untersucht, wie ein nachhaltiger Umgang mit Umwelt und Klima Frieden sichern kann.

Ansammlung von Menschen mit Wasserkanistern, die gefüllt werden.
Seit September 2016 versorgt das Welternährungsprogramm (WFP) Binnenvertriebene in den Pulka-Lagern in Nigeria mit Lebensmitteln und Wasser, um den täglichen Bedarf zu decken. Dort wächst die Bevölkerung von Tag zu Tag. Trotz der vielen gegrabenen Bohrlöcher gibt es in der Siedlung nicht ausreichend Wassersammelstellen. FOTO: WFP/REIN SKULLERUD

Nigeria steht vor akuten Bedrohungen, die sich gegenseitig beeinflussen: dem Terror der Boko Haram, Ressourcenkonflikten und dem Klimawandel. Das Forschungsgebiet der ökologischen Friedensförderung (Environmental Peacebuilding) untersucht, wie ein nachhaltiger Umgang mit Umwelt und Klima Frieden sichern kann.

Seit Jahren terrorisiert die radikal-islamische Boko Haram den Norden Nigerias. Seitdem gehören Mord und Flucht zum Alltag. Dabei fallen der Terrorgruppe vor allem Christinnen und Christen zum Opfer, deren Ziel die Errichtung eines islamischen Gottesstaats ist, in dem allein die radikale Auslegung der Scharia gelten soll. Zwischen den Jahren 2015 und 2021 wurden bei Anschlägen in Nigeria Schätzungen zufolge 6000 Menschen getötet.[1] Doch auch Musliminnen und Muslime sowie die bäuerliche Bevölkerung stehen im Fokus der Boko Haram, die eine politische Strategie zur Erfüllung ihrer territorialen Ansprüche verfolgt. In Nigeria sind seit dem Jahr 2009 rund 40 000 Menschen der Terrorgruppe zum Opfer gefallen, fast zwei Millionen ergriffen die Flucht.[2] Der Konflikt weitet sich aber längst auch auf Nigerias Nachbarstaaten aus und fordert immer mehr Opfer.
 

Kampf um Ressourcen

Die Ursachen für den Gewaltausbruch werden in der medialen Berichterstattung praktisch mit dem Terrorismus gleichgesetzt. Zwar ist der Terror der Boko Haram heute die offensichtlichste Form der gegenwärtigen Gewalt, religiöse Motive können dennoch nicht als einzige Ursache für den Konflikt ausgemacht werden. So bekräftigen immer mehr Fachleute, dass die Gewalt vielmehr das Ergebnis eines Ressourcenkampfs ist als ein religiöser Konflikt. Und so spitzt sich seit Jahrzehnten praktisch ungesehen ein Konkurrenzkampf zwischen sesshaften Bauern und umherziehenden Viehzüchtern zu, der immer blutiger wird.

Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Rund 200 Millionen Menschen leben hier auf einer Fläche von 92,4 Millionen Hektar. Damit gehört Nigeria zu den am dichtesten besiedelten Ländern des Kontinents. Ein Großteil der Bevölkerung lebt von der Land- und Viehwirtschaft. 70 Prozent der Landbevölkerung sind Subsistenz-Kleinbäuerinnen und -bauern, die 90 Prozent der Nahrungsmittel auf unbewässerten Parzellen produzieren. Deshalb zählt Land in Nigeria seit jeher zu den wichtigsten natürlichen Ressourcen. Doch aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte auf engem Raum hat sich in Nigeria eine traditionelle Landknappheit etabliert, die Konkurrenz und Feindschaft schürt. Mit dem Beginn der 1960er Jahre setzte schließlich ein Bevölkerungsanstieg ein, der dazu geführt hat, dass sich die Bevölkerung bis heute vervierfacht hat. Damit stieg auch der Bedarf an fruchtbarem Land nochmals rasant an, das immer kostbarer wurde – und stark umkämpft. Bis heute sind die Agrarerträge gering und Armut ist weit verbreitet.

 

Landknappheit und Klimawandel als Fluchtursachen

Mehr als 90 Prozent der rund 20 Millionen Rinderhalterinnen und -halter in Nigeria lebt nomadisch. Die meisten von ihnen zählen zum Volk der Fulani, das im Sahelstreifen Westafrikas beheimatet ist und mehrheitlich dem muslimischen Glauben angehört. Generell leben im Norden Nigerias überwiegend Muslime, im Süden vorwiegend Christen. Doch die Auswirkungen des Klimawandels haben dazu geführt, dass ein Großteil des Weidelands im Norden zu Wüsten geworden ist, weshalb die Erträge der erodierten Felder kaum mehr zum Überleben ausreichen.[3] Auf der Suche nach Weideland sind die Viehhirtinnen und -hirten dazu gezwungen, in südlichere Regionen auszuweichen. Die meisten von ihnen ziehen in den mittleren Gürtel, eine Savannenlandschaft, die die karge Nordregion vom tropisch-feuchten Süden trennt. Hier angekommen, ringen die Hirten mit den sesshaften Bauern um das begehrte Land, weil das umherziehende Vieh die Ernten der heimischen Landwirtinnen und -wirte zerstört. Weil die heimischen Farmerinnen und Farmer meistens einer anderen Volksgruppe oder Religion als die Hirten angehören, wurde aus einem Kampf um Ressourcen ein Konflikt zwischen nomadischen Muslimen und sesshaften Christen. Tatsächlich handelt es sich in erster Linie um einen Ressourcen- als um einen religiösen Konflikt.[4] Der traditionsreiche Konflikt zwischen Farmern und Hirten wird in Folge des Klimawandels immer blutiger, Religionszugehörigkeit wird ein nützliches Unterscheidungsmerkmal.[5] Auf der anderen Seite werden auch zugewanderte Fulani von der einheimischen Bevölkerung angegriffen.

 

Die Ethnisierung des Landkonflikts

Land ist aber nicht nur zwischen Siedlerinnen, Siedlern und indigener Bevölkerung umstritten, sondern auch innerhalb der indigenen Ethnien sowie zwischen den sesshaften Bäuerinnen und Bauern, die um ihre Existenz bangen. Dieser Wettstreit um Macht, Land und Ressourcen wird von radikalen Anführern immer wieder religiös verbrämt. Hinzu kommt, dass sich viele Minoritätenvölker durch den Zuzug von Siedlern bedroht fühlen und befürchten, die Kontrolle über ihre Existenzgrundlage zu verlieren: Land. Bei den Bemühungen, Fremde zurückzudrängen, bekam auch die ethnische Zugehörigkeit eine neue Bedeutung. Die Zuwanderer nehmen sich nicht nur das begehrte Land, sie kommen auch mit dem Anspruch, die ganze Religion zu beherrschen. So wird aus den Landnahmen in den Heiden-Gebieten eine heilige Mission, mit dem Ziel, die Vorherrschaft über die Ungläubigen zu erlangen. Sie sollen in ihrer eigenen Heimat unter Bedingungen leben, die ihnen von Fremden diktiert werden.[6] Um sich von den islamischen Völkern des Nordens abzugrenzen, sind viele Bewohnerinnen und Bewohner des Südens zum Christentum übergetreten.

 

Landmangel als Treiber von Gewalt und Umweltzerstörung

Die aus der Landknappheit resultierenden Existenzängste haben auch die Anfälligkeit für Manipulationen erhöht. Insbesondere junge Nigerianerinnen und Nigerianer sollen sich immer häufiger der Boko Haram anschließen, weil sie keine andere Zukunft für sich sehen.[7] Der Landkonflikt und seine Folgen haben bis heute tatsächlich weit mehr Tote auf dem Gewissen als die Terrororganisation selbst. Hinzu kommen 2,2 Millionen Binnenvertriebene im Land.[8] Mittlerweile wird sogar von einem regelrechten Völkermord an der christlichen Gesellschaft, insbesondere an Frauen, gesprochen, dem selbst Kinder zum Opfer fallen. Zudem kommt es immer wieder zu Massenentführungen von Frauen und Mädchen, die misshandelt, vergewaltigt oder als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt werden. Darüber hinaus gehören Frauen durch die anhaltend prekäre humanitäre Situation im Nordosten zu den am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen. Als Witwen und Familienoberhäupter müssen viele von ihnen um ihr Überleben und das ihrer Familien kämpfen. Während Frauen auch in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle einnehmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und Zugang zu Lebensmitteln zu bekommen, werden sie durch eine Geschlechterungleichheit in der landwirtschaftlichen Produktion benachteiligt. Dazu zählen Hürden bei der Kreditvergabe, der mangelnde Zugang zu Bildung sowie zu Ackerland durch eingeschränkte Landrechte. Damit sind Frauen in Nigeria zugleich auch besonders stark von den negativen Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Existenzsicherung betroffen.

Der traditionsreiche Konflikt zwischen Farmern und Hirten wird in Folge des Klimawandels immer blutiger.

Der Mangel an existenzsicherndem Land treibt auch die Umweltzerstörung voran. Dies zeigt sich in einer massiven Abholzung und Überweidung, der Ausweitung von Agrarflächen und einem Nichteinhalten von notwendigen Brachzeiten. Dadurch nimmt die Bodenerosion zu, während die natürliche Vegetation schwindet – genauso wie die Artenvielfalt. Das Ergebnis sind karge Ernten, durch die neue Landstreitigkeiten im Kampf um die Existenzsicherung entfachen. Auch die Desertifikation schreitet weiter voran, wodurch die Bodenerosion zusätzlich verstärkt wird und es zu einer Austrocknung der landwirtschaftlichen Nutzflächen kommt. All das bedroht die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen. Die Konkurrenz um Wasser und Land löst aber nicht nur Massenwanderungen von Menschen aus, sondern mittlerweile auch von Tieren in Richtung des mittleren Gürtels.

 

Bedrohung durch den Klimawandel wächst

Hervorgerufen und verstärkt werden all diese Effekte durch die Erderwärmung, denn Nigeria gilt als Brennpunkt des Klimawandels. Dadurch wird die ohnehin schon starke Belastung der Umwelt verschärft, während sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung verschlechtern. Wasser ist heute vielerorts ein knappes Gut. Darunter leidet vor allem die Landwirtschaft. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Regenzeit spürbar verschoben, während die jährlichen Regenmengen sinken. Besonders dramatisch ist die Lage am Tschadsee, dem die vollständige Austrocknung droht.[9] Laut Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme – UNEP) gehen 50 Prozent des Rückgangs der Tschadseefläche auf Klimaeffekte zurück. Die andere Hälfte wird durch die verstärkte Nutzung der Zuflüsse für landwirtschaftliche Bewässerung, dem erhöhten Wasserverbrauch der wachsenden Bevölkerung und Miss­management verursacht. Aber auch Dürren und Hitzewellen schädigen das Pflanzenwachstum, schwere Regengüsse zerstören die Ernten oder spülen sie von den Feldern. Auf über einem Drittel der Landfläche schreitet die Wüstenbildung voran.

Prognosen zufolge wird Nigeria infolge des Klimawandels die schwersten Ernteverluste Afrikas verzeichnen. Eine Studie der Weltbank rechnet bis Mitte des Jahrhunderts mit einem Rückgang der Ernteerträge um bis zu 30 Prozent gegenüber dem Mittel der Jahre 1975 bis 2005.[10] In Folge drohen steigende Preise, eine zunehmende Abhängigkeit von Lebensmittelimporten und Hunger. Auf der anderen Seite ist insbesondere die Küstenregion durch Überschwemmungen bedroht. Das Eindringen von Salzwasser macht Felder und Grundwasser unbrauchbar. Sollte der Meeresspiegel, wie prognostiziert, um einen Meter ansteigen, könnte Nigeria dadurch 20 000 Quadratkilometer Land verlieren. Aber auch vorher schon werden Sturmfluten an Zerstörungskraft gewinnen. Auf diese Weise verstärkt der Klimawandel bestehende Umweltprobleme wie Ressourcenmangel, Entwaldung, Bodendegradation und Süßwassermangel. Unzählige Existenzen stehen auf dem Spiel.

 

Erderwärmung begünstigt Gewalt

Der Klimawandel verschärft gewaltsame Landkonflikte und die Terrorgefahr; er erhöht die Armut und Arbeitslosigkeit, was wiederum dazu führt, dass mehr Menschen für die Rekrutierung durch extremistische Gruppen anfällig werden.[11] Auch bei den Vereinten Nationen wird zunehmend anerkannt, welch bedeutende Rolle der Klimawandel bei der Verschärfung von Konfliktrisiken spielt. Häufig wird aber immer noch die Ansicht vertreten, der Klimawandel fungiere lediglich als ›Risiko­multiplikator‹. In einer aktuellen Umfrage wollte das Projekt ›Auswegmöglichkeiten aus bewaffneten Konflikten‹ (Managing Exits from Armed Conflicts – MEAC) des Zentrums der Universität der Vereinten Nationen für Politikforschung (United Nations University Centre for Policy Research – UNU-CPR) deshalb herausfinden, inwiefern hier auch konkrete Kausalzusammenhänge bestehen. Denn bisherige Untersuchungen über die Effekte von Klimaphänomenen auf Konfliktrisiken beschäftigten sich überwiegend mit den Folgewirkungen auf die Lebensgrundlagen in der Landwirtschaft. Die Umfrage des MEAC-Projekts ›Klimabedingte Rekrutierung für bewaffnete Gruppen in Nigeria‹ (Climate-driven Recruitment Into Armed Groups in Nigeria) in diesem Jahr hat ergeben, dass der Klimawandel nicht nur Existenzgrundlagen bedroht, sondern auch Migrationen auslöst, wodurch Konkurrenz und Gewalt um Ressourcen geschürt werden. Demnach haben klimabedingte Herausforderungen für den Lebensunterhalt einen direkten Einfluss auf die Rekrutierung in Gewaltkonflikte. So wussten 41 Prozent der Befragten von Personen, die sich aufgrund der Existenzbedrohung einer extremistischen Gruppe angeschlossen hatten.[12] Diese Ergebnisse unterstreichen nicht nur das allgemeine Risiko, dass der Klimawandel für den Lebensunterhalt darstellt. Sie unterstützen auch eine direktere Verbindung zwischen dem Klimawandel und der Fähigkeit von Terrorgruppen, an Einfluss zu gewinnen und Gewalt zu fördern.

 

Der Effekt schwappt über

Dieser Erkenntnisgewinn spielt nicht nur für Nigeria eine Rolle. Der Nachweis von Wechselwirkungen zwischen Klimaeffekten und der Mobilisierung in radikale Gruppen bedeutet, dass die gleiche Dynamik auch auf andere Regionen übergehen kann. Deshalb müssen Bemühungen zur Gewaltpräven­tion klimasensible Programme berücksichtigen, um die Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen zu mildern – und damit auch Gewalt. Dafür ist es unabdingbar, dass Interventionen zur Milderung von Konfliktrisiken die Rolle des Klimas stärker berücksichtigen.

Der Klimawandel führt dazu, dass mehr Menschen für die Rekrutierung durch extremistische Gruppen anfällig werden.

An oberster Stelle sollte dabei die Unterstützung derjenigen stehen, deren Lebensunterhalt durch die Erderwärmung direkt bedroht wird. Das betrifft die Schaffung von Arbeitsplätzen, um wirtschaftliche Alternativen bereitzustellen, die weniger anfällig für Umwelteinflüsse sind, und die Wahrscheinlichkeit für Radikalisierungen verringern. Dazu gehört ebenso, die Gemeinden bei ihrer Anpassung an den Klimastress zu unterstützen, lokale Regierungs- und Ressourcenmanage­ment-Kapazitäten aufzubauen und Schulungen für klimaresistente Landwirtschaftspraktiken anzubieten. Nur so kann die Sicherung von Existenzen garantiert werden, während die Anfälligkeit für Re­krutierungen und Gewalt sinkt.

 

Weltweite Wirkung von Ressourcen- und Klimakonflikten

Die verstärkte Berücksichtigung von Umwelt und Klima in der Konfliktverhütung ist auch deshalb notwendig, weil die Folgen der Erderwärmung nicht nur in besonders klimaanfälligen Regionen verheerend sein werden. Wenn die Klimaeffekte zunehmen, wird bald auch das Phänomen der Klimaflucht weltweit zu spüren sein. Dann wird das nigerianische Problem auch zu einem europäischen. Migrationsbewegungen spielen in Nigeria aber schon heute eine Rolle. So hat der anhaltende Konflikt um Land, Existenzen und Ethnien auch im Hinblick auf steigende Fluchtursachen potenziell zerstörerische Ausmaße für ganz Afrika.[13] Bis Ende des Jahres 2019 sind bereits mehr als 243 000 Menschen aus Nigeria in die Nachbarländer geflohen. Noch mehr Schutzsuchende leben als Binnenvertriebene im eigenen Land. Zugleich ist die Zahl der Menschen mit schwerer Unterernährung auf ein kritisches Niveau angestiegen. »Wenn wir uns hier nicht stärker engagieren, droht uns die größte jemals erlebte Krise«, erklärte der ehemalige Koordinator der Vereinten Nationen für humanitäre Maßnahmen in der Sahel-Zone, Toby Lanzer, bereits im Jahr 2016.[14] Im Juli 2021 warnten die UN erneut vor einer Hungerkrise in Nord-Nigeria: »Heute steht die Menschheit vor einer dreifachen Krise: dem Verlust der biologischen Vielfalt, der Klima­krise und den Auswirkungen der Pandemie«, erklärte der Generaldirektor der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations – FAO), Qu Dongyu. Für gesunde Ernährung brauche es daher eine gesunde Umwelt, wobei der Agrarsektor zahlreiche Schlüssellösungen für die aktuelle Biodiversitäts- und Klimakrise biete.[15]

 

Umweltschutz als Friedensförderer

Immer mehr bewaffnete Konflikte sind heute weltweit untrennbar mit der Umwelt verbunden. Insbesondere die global ungleiche Verteilung natürlicher Ressourcen – nicht zuletzt von Land – kann zum Ausbruch von Gewalt beitragen.[16] Allerdings funktionieren die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Gewalt nicht nur in eine Richtung. Auch der Frieden selbst hängt stärker mit der Umwelt zusammen, als es bisher thematisiert wird. Diesem Grundgedanken folgend hat sich vor wenigen Jahren eine neue Wissenschaftsdisziplin mit dem Namen ›Environmental Peacebuilding‹ etabliert, in der Verbindungen zwischen dem Umweltschutz und der Friedenssicherung untersucht werden.[17] Dahinter steht die Annahme, dass die Förderung des Umwelt- und Klimaschutzes dazu beitragen kann, gesellschaftliche Lebensbedingungen zu verbessern, indem eine ausreichende Verfügbarkeit von Ressourcen gewährleistet wird und Existenzen gesichert werden. Im Jahr 2018 hat sich dieses neue Forschungsgebiet mit der Gründung der ›Environmental Peacebuilding Association‹ (EPA) auch auf institutioneller Ebene etabliert. Die weltweite Vereinigung versteht sich als multidisziplinäres Forum für den Wissensaustausch zu Umwelt-, Konflikt- und Friedensfragen. Dabei wird das Management natürlicher Ressourcen sowie der Schutz von Ökosystemen in der Konfliktverhütung und -lösung untersucht, um die Widerstandsfähigkeit konfliktanfälliger Gemeinschaften zu stärken und sicherheitsfördernde Entwicklungsziele zu begünstigen. Auch das UNEP arbeitet eng mit der EPA zusammen und hat die Gründung der Organisation bereits in ihren Anfängen mitunterstützt.

 

Internationale Verantwortung gefordert

Der Klimawandel ist schon heute in großen Teilen der Welt deutlich spürbar – und verstärkt bestehende Umwelt- und Ressourcenprobleme zusätzlich. Deshalb müssen agrar-ökologische Anbau­methoden, effiziente Bewässerungssysteme und der Zugang zu dürreresistenten Pflanzensorten stärker gefördert werden. Präzisere Wettervorhersagen, Frühwarnsysteme und Notfallpläne für Unwetterkatastrophen können die Menschen zusätzlich widerstandsfähiger machen. Dämme müssen gebaut, Häuser befestigt und Felder gegen Erosion geschützt werden. Doch für all das brauchen Länder wie Nigeria internationale Unterstützung – nicht nur, um ihre Lebensgrundlagen zu sichern, sondern auch, um künftige Gewaltkonflikte zu vermeiden.

Die Förderung des Umwelt- und Klimaschutzes kann dazu beitragen, gesellschaftliche Lebensbedingungen zu verbessern.

Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme – UNDP) ist bereits seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 in Nigeria tätig und leistet Unterstützung in den Bereichen Regierungsführung, Friedensförderung und nachhaltige Entwicklung. Um konkret auf den umwelt- und klimabedingten Konfliktherd in Nigeria zu reagieren, arbeitet darüber hinaus das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (United Nations Human Settlements Programme – UN-Habitat) im Land. Neu geschaffene lokale Regierungen sollen dort künftig einen einfachen Zugang zu Wohneigentums- und Mietsystemen ermöglichen, während eine Reform den Zugang zu Land erleichtert.[18] Im Jahr 2020 haben die UN zudem ein Projekt initiiert, das einen Dialog zwischen Bauern und Viehhirten im Hinblick auf Landknappheit und Klimaeffekte fördern soll. Denn der bestehende Landkonflikt ist durch die COVID-19-Pandemie noch komplizierter geworden. Nach UN-Angaben zeigen die beiden Krisen – die Pandemie und der Gewaltkonflikt – wie scheinbar unterschiedliche Herausforderungen tatsächlich zusammenhängen. Das UN-Projekt fördert Ausbildung und Dialog in drei nigerianischen Bundesstaaten. Es wird vom UN-Friedenskonsolidierungsfonds (UN Peacebuilding Fund – PBF) finanziert und gemeinsam mit dem UNDP, der Einheit der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Stärkung der Frauen (United Nations Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women – UN Women), der FAO und dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (Office of the UN High Commissioner for Human Rights – OHCHR) durchgeführt.[19]

 

Neue Perspektiven für Nigeria

Die akuten Herausforderungen Nigerias – Boko Haram, Landkonflikte sowie umwelt- und klimabedingte Bedrohungen – verstärken einander und können deshalb nicht getrennt vonein­ander betrachtet werden. Obwohl die aktuelle Präsenz der Boko Haram nur noch wenig mit dem traditionsreichen Landkonflikt zu tun hat, gehören jene, die am meisten unter der Terrorgewalt leiden, sowie jene, die sich der Boko Haram am häufigsten anschließen, zu denen, die Land besitzen – oder eben nicht. Erst der Unterschied in ihren Ethnien und Religionen macht den Konflikt in Nigeria zu einem Glaubenskrieg. Für die internationale Staatengemeinschaft darf es deshalb nicht allein darum gehen, den akuten Terror zu bekämpfen. Schon eine nachhaltigere und gerechtere Landverwaltung, der schonende Umgang mit Ressourcen und die Vorbeugung von Klimaeffekten könnten die Existenzängste der Bevölkerung entscheidend verringern – und damit auch die Anfälligkeit für Gewalt. Der Umwelt- und Klimaschutz birgt dabei das Potenzial, die Lebensbedingungen in Nigeria entscheidend zu verbessern. Und das ist die beste Voraussetzung, damit neue Gewalt vermieden und der Frieden gesichert werden kann. Nicht nur in Nigeria.

Um die Krise in Nigeria zu bewältigen, bedarf es deshalb weit mehr als humanitärer Hilfe. Es erfordert wirksame Prävention, Stabilisierung, Transformation und nicht zuletzt Nachhaltigkeit. Die erfolgreiche Bekämpfung der Boko Haram muss zwar künftig oberste Priorität genießen, um das Leid der Bevölkerung zu beenden und den Frieden zu sichern. Die Bewältigung von Ressourcen-, Land- und Klimakonflikten muss ihr jedoch direkt folgen.

 

[1] Kirche in Not, In Nigeria geschieht ein Völkermord, 28.8.2020, www.christenverfolgung.org/nigeria-geschieht-ein-voelkermord.html

[2] Franca Wittenbrink, Warum sich immer mehr Menschen Boko Haram anschließen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.1.2021, www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-sich-boko-haram-in-der-sahelzone-ausbreitet-17126527.html

[3] Johannes Harnischfeger, Landkonflikte, ethnische Vorherrschaft und forcierte Islamisierung in Nigeria, Konrad Adenauer Stiftung (KAS), 7/2003, S. 4, www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=c7d4e003-64cd-efac-6d8f-c6e869634fbd&groupId=252038

[4] Aid to the Church in Need (ACN International), Nigeria: Die Gefahr einer Stigmatisierung der Fulani, 23.11.2020, acninternational.org/de/nigeria-die-gefahr-einer-stigmatisierung-der-fulani/

[5] Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Nigeria: Massaker an 100 christlichen Bauern – Landkonflikte eskalieren, 26.5.2015, www.gfbv.de/de/news/nigeria-massaker-an-100-christlichen-bauern-landkonflikte-eskalieren-7527/

[6] Harnischfeger, Landkonflikte, a.a.O. (Anm. 3), S. 16.

[7] Der Standard, Ursprung, Ziele und Unterstützer der Boko Haram, 20.2.2015, www.derstandard.at/story/2000011857537/hintergrund-was-ist-boko-haram

[8] UNO-Flüchtlingshilfe, Nigeria: Auf der Flucht vor Boko Haram. Großer Hilfsbedarf, noch größeres Vergessen, 2021, www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/nigeria

[9] Julia Jahnz/Jan Kowalzig/Markus Nitschke, Wenn die Wüste kommt, Oxfam Deutschland, 2017, S. 2, www.oxfam.de/system/files/oxfam_wueste_factsheet-web.pdf

[10] Ebd., S. 3.

[11] Katja Scherer, Wenn der Klimawandel zuschlägt, Deutschlandfunk, 9.4.2018, www.deutschlandfunk.de/nigeria-wenn-der-klimawandel-zuschlaegt.697.de.html?dram:article_id=415137

[12] Jessica Caus, Climate-driven Recruitment Into Armed Groups in Nigeria, MEAC Findings Report 1, United Nations University – Centre for Policy Research (UNU-CPR), Februar 2021, S. 6, collections.unu.edu/eserv/UNU:7934/MEACFindings1.pdf

[13] Konstanze Walther, Nigerias Landkonflikt fordert mehr Tote als Boko Haram, Wiener Zeitung, 18.12.2018, www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/1008420-Nigerias-Landkonflikt-fordert-mehr-Tote-als-Boko-Haram.html

[14] Österreichischer Rundfunkt (ORF), UNO: In Nigeria droht »größte jemals erlebte Krise«, 30.9.2016, orf.at/v2/stories/2360296/

[15] FAO, FAO Director-General Tells G20: To Have Healthy Food, We Need a Healthy Environment, 22.7.2021, www.fao.org/news/story/en/item/1417020/icode/

[16] Environmental Law Institute (ELI), Environmental Peacebuilding, www.eli.org/environmental-peacebuilding

[17] Environmental Peacebuilding Association (EPA), Environmental Peacebuilding, environmentalpeacebuilding.org/

[18] UN Habitat, Habitat Country Programme Document Nigeria – 2017–2021, November 2016, S. 16, mirror.unhabitat.org/downloads/docs/13282_1_596004.pdf

[19] United Nations Nigeria, Climate Crisis in Nigeria: The UN Fosters Dialogue Between Farmers and Cattle Herders Over Shrinking Land, 14.11.2020, nigeria.un.org/en/100849-climate-crisis-nigeria-un-fosters-dialogue-between-farmers-and-cattle-herders-over-shrinking

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